cash.ch: Herr Hess, letzte Woche wurde bekannt, dass Sie nebst der Funktion als Gruppen-CEO von DocMorris auch CEO des Hauptmarktes Deutschland werden. Ein logischer Schritt?

Walter Hess: Ja. Wir haben während der letzten 18 Monate unsere Geschäfte integriert und konsolidiert. Wir haben Strukturen angepasst und das Schweizer Geschäft verkauft. Viele dieser Schritte sind nun abgeschlossen, wir sind nun auf das elektronische Rezept in Deutschland vorbereitet. Ich habe das Deutschland-Geschäft schon vor der Übernahme der Funktion als Gruppen- CEO geleitet und möchte in der nächsten Phase sehr nahe am Geschäft in Deutschland sein.

Seit dem Verkauf des Schweizer Geschäfts von Zur Rose im Frühjahr 2023 an die Migros hält DocMorris nur noch den Firmensitz in Frauenfeld. Ist DocMorris, überspitzt gesagt, eine deutsche Firma mit Schweizer Firmensitz?

Wir sehen uns als europäische Firma mit Schweizer Firmensitz. Da sind wir ja nicht die einzigen in der Schweiz mit einer solchen Aufstellung. Ich selber bin noch ein bis zwei Tage pro Woche in der Konzernzentrale in Frauenfeld anzutreffen. Ich möchte dort sein, wo das Geschäft stattfindet, und das passiert nicht in der Schweiz. Wir sind an der Schweizer Börse kotiert, das war ein guter Entscheid auch nach dem Verkauf des Schweizer Geschäftes. Wir hatten dazu auch einige andere Optionen geprüft. Ein Office in der Schweiz zu haben macht Sinn, und das wird auch so bleiben.

Ist der Standort Frauenfeld sakrosankt?

Wir haben andere Standorte geprüft, zum Beispiel Zürich oder andere Kantone. Wir kamen zum Schluss, dass ein Sitzwechsel jetzt keine Vorteile bringen würde.

DocMorris fokussiert sich nun fast ausschliesslich auf das elektronische Arztrezept in Deutschland. Dessen Planungsphase und Einführung waren von erheblichen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten geprägt. Ist DocMorris als Gesellschaft nun nicht noch riskanter geworden?

Ich finde, das Gegenteil ist der Fall. Wir sind berechenbarer geworden. Wir legen den Fokus nun auf das Business-to-Consumer-Geschäft und auf die Einführung des elektronischen Rezeptes in Deutschland. Wir sehen bei uns eine klare Fokussierung der Kräfte.

Vom 1. Januar 2024 an soll es für Ärztinnen und Ärzte in Deutschland endlich verpflichtend sein, Verschreibungen elektronisch auszustellen. Das wurde in der Vergangenheit, auch kurzfristig, immer wieder verschoben, was Investoren verunsicherte. Sind Sie wirklich sicher, dass nun nichts mehr schief geht?

Wir glauben, da geht nichts mehr schief. Die Einführung des E-Rezeptes ist zweimal im Gesetz in Deutschland verankert. Und man sieht bei den Ärzten, mit denen ich gesprochen habe: Die Umstellung hat nun wirklich begonnen. Die Ärzte sehen die Vorteile und gehen nicht mehr zurück auf das alte System. Ein Viertel der Arztpraxen in Deutschland hat damit begonnen, Rezepte elektronisch auszustellen.

Ist denn der deutsche Markt so viel absehbarer und konstanter geworden?

In der Spitze werden über 200’000 elektronische Rezepte in Deutschland pro Tag ausgestellt. Im Juni waren es noch zwischen 5000 und 10’000. Das hat sich mittlerweile also verzwanzigfacht. Und das ist ja erst der Beginn. Daher sind wir gespannt bis in die Zehenspitzen.

Ein Analyst der Zürcher Kantonalbank hat etwas Zweifel an der Nachhaltigkeit des Wachstums der Anzahl oder Steigerung der E-Rezepte. Es könnte bis ins erste Quartal anhalten, dann aber abflachen, weil der wirkliche Wille der Ärzte nicht da sei, E-Rezepte auszustellen.

Wie gesagt: Es gibt keinen Grund, weshalb Ärzte beim Ausstellen der Rezepte zum alten System zurückkehren sollten.

Wie viele Anteile an den E-Rezepten wird DocMorris für sich verbuchen können?

Wir gehen davon aus, dass in den nächsten drei bis fünf Jahren mindestens 10 Prozent der Rezepte bei den Online-Apotheken ankommen wird. Und ein relevant hoher Marktanteil bei uns ankommen wird.

Was heisst ein 'relevant hoher Marktanteil'?

Wir haben derzeit bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, die über den Online-Kanal bezogen werden, einen Marktanteil von rund 50 Prozent. Warum soll dies auch in Zukunft nicht so bleiben?

Der Umsatz war in diesem Jahr wieder langsam steigend. Dennoch enttäuschten die Umsatzzahlen fürs dritte Quartal. Können Sie ein Update geben zum Umsatz im vierten Quartal 2023?

Die Geschäfte laufen im 4. Quartal wie erwartet und geplant. Es geht in die Richtung eines Wachstums von 10 Prozent gegenüber dem vierten Quartal 2022.

Bei der Bekanntgabe der Drittquartalszahlen Mitte Oktober senkte DocMorris den Ausblick für das Gesamtjahr. Statt mit einer währungsbereinigten Umsatzeinbusse im mittleren einstelligen Prozentbereich rechnete DocMorris mit einer solchen im höheren einstelligen Prozentbereich. Die Erwartung für den Betriebsverlust auf Stufe Ebitda wurde auf 30 bis 40 Millionen verengt. Halten Sie an diesen Angaben fest?

Ja, das tun wir. Das Ziel ist das Erreichen des Break-Even im Basisgeschäft im nächsten Jahr. Für das Geschäft des elektronischen Rezeptes haben wir verschiedene Szenarien parat, je nachdem wie schnell und intensiv die Geschäfte mit dem eRezept anlaufen werden.

Der deutsche Konkurrent Redcare, ehemals Shop Apotheke, ist Docmorris enteilt sowohl in Sachen Börsenkapitalisierung, Aktienkurssteigerung, Erwartungen beim Umsatzwachstum als auch beim Erreichen der Profitabilität. Was macht Redcare besser?

Was andere Unternehmen gut oder schlecht machen, müssten Sie wohl besser deren CEO fragen. Ich denke, wir haben in den letzten Jahren sehr vieles bereitgestellt, damit wir für die Zukunft gut gerüstet sind. Unser Fokus lag schon immer stärker auf Produkten und Service für Menschen mit chronischen Erkrankungen. Zudem haben eine sehr hohe Markenbekanntheit. Vor zwei Jahren haben wir sehr viel dafür investiert. Das ist nun ein wichtiger Treiber, wenn es in Deutschland mit dem elektronischen Rezept losgeht.

Ein permanentes Thema im Markt bei Online-Apotheken ist der mögliche Markteintritt eines sehr grossen Players wie etwa Amazon Pharmacy. Wie hoch schätzen Sie diese Wahrscheinlichkeit ein?

Dazu können wir nichts sagen. Aber wer jetzt nicht mit Markenbekanntheit, Kapazitäten der Logistik und den pharmazeutischen Prozessen und Ressourcen bereit ist, braucht zwei bis drei Jahre, um den Fuss richtig im deutschen Markt aufsetzen zu können.

Es kann mittels Übernahmen auch schneller gehen. Sollte Amazon Ihren Konkurrenten Redcare übernehmen, was würde das für DocMorris bedeuten?

Das sind Spekulationen, zu denen ich keine Stellung nehmen kann.

Sind Akquisitionen für DocMorris selber noch ein Thema?

Der Fokus bei DocMorris lag in den letzten zwei Jahren auf der Integration und Konsolidierung, um die Basis für die Profitabilität mit dem elektronischen Rezept herzustellen. Alles andere ist für uns derzeit nicht prioritär.

Das klang schon einmal anders: Zur Rose hatte einmal hochtrabende Pläne und wollte eine 'bedeutende Rolle in einem europäischen digitalen Gesundheitsökosystem spielen', wie noch vor rund zwei Jahren verlautbart wurde.

Wir sehen uns klar als europäischen Player. Es ist für uns auch völlig klar, dass es für uns in Deutschland nicht aufhört. Dieser Markt von rund 52 Milliarden Euro wird nun in kurzer Zeit digitalisiert. Weitere Märkte werden für uns in Europa mit eRezept in drei bis fünf Jahren folgen. Sie können sicher sein, dass wir dann da sein werden. In Spanien, Frankreich und Portugal sind wir ja bereits präsent.

Die Aktien von DocMorris beziehungsweise von Zur Rose notieren noch immer fast 70 Prozent unter dem Wert beim Börsengang 2017. Sie sackten auch von über 500 Franken im Februar 2021 auf unter 30 Franken keine zwei Jahre später ab. Viel Marketing, teils übereilte Übernahmen, zu viel Optimismus: Wie viel Vertrauen haben Sie an den Finanzmärkten verspielt?

Es kam natürlich sehr viel zusammen: Ende 2021 wurde in Deutschland sehr kurzfristig die Verschiebung der für Anfang 2022 vorgesehenen Einführung des E-Rezeptes bekanntgegeben. Das führte zu Frustration und Verunsicherung bei den Investoren. Der Beginn des Ukraine-Krieges führte dann zu Veränderungen im gesamten Weltmarkt. Technologieunternehmen, zu denen wir uns zählen, waren besonders stark betroffen. Wir haben bestmöglich reagiert und sind nun bereit für das Erreichen unserer Ziele in Deutschland.

Der langjährige CEO Walter Oberhänsli ist nun Verwaltungsratspräsident. Wie ist die Zusammenarbeit?

Wir arbeiten seit rund 15 Jahren zusammen, ich habe mit Walter Oberhänsli ein sehr gutes und klares Verhältnis. Wir kennen einander sehr gut. Schon zu meiner Zeit als Leiter des Deutschland- und Schweiz- Geschäfts von Zur Rose hatten wir klare Verantwortungsbereiche. Das Management hat die volle Rückendeckung des Verwaltungsrates dafür, wie wir das Geschäft vorwärts treiben.

Der St. Galler Walter Hess (57) ist seit April 2022 CEO der Online-Apotheke DocMorris. Er folgte auf den Unternehmensgründer Walter Oberhänsli, der heute Verwaltungsratspräsident von DocMorris ist. Hess absolvierte nach einer Bankausbildung berufsbegleitend ein Studium der Betriebswirtschaft an einer Fachhochschule. Nach dem Chefposten bei der Papierfabrik Sihl und einem Aufenthalt in China für eine italienische Firma begann er eine Tätigkeit als Berater für Strategie- und Risikomanagement. 2008 stiess er zur Online-Apotheke Zur Rose, wo er ab 2013 Chef des Deutschland-Geschäftes wurde und ab 2015 Chef des Schweizer Geschäftes.

Zur Rose verkaufte das Schweizer Geschäft im Frühjahr 2023 an die Migros und nennt sich seither DocMorris. Es ist der Name der niederländischen Versandapotheke DocMorris, welche 2012 von Zur Rose aufgekauft wurde und womit der Markteintritt in Deutschland gelang.

 

 

Daniel Hügli
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