cash.ch: Wie lässt sich diese beispiellose Erholung an den Finanzmärkten seit den Tiefstständen im März erklären?
Anastassios Frangulidis: Die Entwicklung der Finanzmärkte erklärt sich durch den Anstieg der Bewertungen. Dies hat damit zu tun, dass die gegenwärtige Geldpolitik beispiellos expansiv ist. Wir haben momentan weltweit deutlich tiefere Nominal- und Realzinsen. Dazu kommen die Programme der quantitativen Lockerung. Die Erholung der risikobehafteten Anlageklassen lässt sich anhand der Erholung der Bewertungen und sicher nicht durch die Entwicklung der Gewinne erklären. Die Zunahme der Liquidität hat zu einer Reduktion der Risikoprämien und damit zu einer höheren Bewertung der Aktienmärkte geführt.
Gewinnerwartungen und Bewertungen divergieren auseinander…
Ja, während die Gewinnschätzungen seit dem Ausbruch der Corona-Krise massiv zum Schlechteren revidiert wurden, sind die Bewertungen und damit die Kurs-Gewinn-Verhältnisse deutlich gestiegen. Ein Beispiel: Für das laufende Fiskaljahr gingen die Analysten letztes Jahr noch davon aus, dass die Gewinne in den USA um 10 Prozent zulegen würden. Jetzt befinden wir uns bei einer Gewinnerwartung von minus 20 Prozent. Wenn die Gewinnerwartungen 30 Prozent nach unten revidiert werden und die Aktienindizes in den USA seit Anfang Jahr zwei bis drei Prozent im Minus sind, gibt es andere Aspekte, die zum Zuge kommen: Dies sind einerseits die Dividenden und andererseits der Anstieg der Bewertungen.
Sind aber die Kurs-Gewinn-Verhältnisse (KGV) nicht zu «hoch»?
Viele Investoren erwähnen, dass die Aktienmärkte hoch bewertet sind. Und ja, die KGVs sind im historischen Vergleich hoch. Aber wir haben eine andere Ausgangslage, die neu ist. Wir hatten historisch noch nie so tiefe Realzinsen. Wir haben in der Vergangenheit noch nie solche monetären Programme gesehen. Die fünf wichtigsten Notenbanken der Welt erweitern ihre Bilanzen in der Höhe von 10 Prozent des globalen BIP.
Sie rechnen daher in den Sommermonaten nicht mit einem bösen Erwachen an den Finanzmärkten?
Es gibt zwei Hauptrisiken für die Sommerzeit: Das eine latente Risiko ist natürlich die Pandemie. Wenn sich die Lage verschlimmert und grössere Lockdowns erfolgen. Das zweite Risiko besteht darin, dass ein bedeutender Teil des fiskalischen Stimulus in den USA, mehr als fünf Prozent des BIPs, durch direkte Transferzahlungen an die Haushalte und durch Zahlungen an die Arbeitslosen erfolgt. Dadurch stieg das verfügbare Haushaltseinkommen in den USA in der Corona-Krise deutlich. Diese Programme laufen Ende der Sommerzeit aus. Der US-Senat müsste noch im Verlauf vom Juli darüber entscheiden, ob die Programme ausgedehnt oder durch andere Programme ersetzt werden. Eine zeitliche Verzögerung könnte Unsicherheit verursachen. Vermutlich werden wir aber nicht die hohen Volatilitäten erleben, die wir befürchten, weil die Unterstützung seitens der Geldpolitik da ist.
Im November wird der neue US-Präsident gewählt und die Anzeichen verdichten sich, dass der neue Präsident Joe Biden heissen wird. Sehen Sie im Wechsel der Wirtschaftspolitik keine Gefahr für die Finanzmärkte?
Die Umfragen zeigen einen klaren Anstieg der Popularität von Biden im Vergleich zu Trump. Die Schere ist in den letzten zwei Monaten sehr gross geworden. Die Märkte wissen dies und wären nicht gross überrascht, wenn Biden gewinnen würde. Natürlich wäre es negativ für die Märkte, wenn die Demokraten einen Teil der Steuerreform rückgängig machen. Aber wenn Biden gewinnt, wäre die Frage der Geopolitik weniger brisant. Das könnte die Risikoprämien reduzieren. Es ist ein Trade-Off. Zudem kann ich mir kaum vorstellen, dass die Demokraten in der Corona-Krise oder unmittelbar danach Steuererleichterungen reduzieren oder sogar Steuererhöhungen vornehmen. Zudem gilt Joe Biden als gemässigter Vertreter der Demokraten. Die Märkte wissen dies.
Ein Markt, der momentan stark zulegt, ist China. Der Shanghai Composite Index steht seit Anfang Jahr 12 Prozent im Plus. Wie lässt sich diese Entwicklung erklären?
Der starke Anstieg der letzten Zeit geht daraufhin zurück, dass auch die chinesische Geld- und Wirtschaftspolitik enorm expansiv geworden ist. Der chinesische Markt ist aber auch strukturell sehr interessant. China ist erstens ein Land, dass bei der Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik über viel Freiheit verfügt, ähnlich wie die USA. China hat kaum Restriktionen rund um die Wirtschaftspolitik. Dies hat mit ihren enormen Ersparnissen und Fremdwährungsreserven zu tun. China ist in der Lage nicht nur das eigene, sondern auch das künftige Wachstum anderer Länder zu finanzieren. Zweitens halten immer mehr asiatische Länder den chinesischen Renminbi als Reservewährung. Schliesslich wollen die Chinesen ihren Kapitalmarkt weiter öffnen, was die Nachfrage nach chinesischen Anlageklassen erhöht.
Seit Anfang Juni zeigt auch der Dollar eine Schwäche. Hilft auch dies den Chinesen?
Dies ist eine gute Nachricht für die Schwellenländer allgemein. Denn dies bedeutet auch eine höhere Nachfrage nach Währungen anderer Länder, auch derjenigen die stark in US-Dollar verschuldet sind. China hingegen braucht wegen seiner finanziellen Unabhängigkeit keinen schwachen Dollar.
Gehen Sie davon aus, dass sich der Dollar noch weiter abwerten wird?
Ja, der Dollar ist eine stark überbewertete Währung. Wenn sich die wirtschaftliche Lage normalisiert, dann wird die Abwertung weitergehen. Die Realverzinsung, die der Dollar bietet, ist historisch tief und damit risikoadjustiert ungenügend für viele ausländische Investoren.
Eine Anlageklasse, die auch von einem schwachen Dollar profitiert, ist Gold. Welche anderen Faktoren spielen beim aktuellen Goldrally auch noch eine Rolle?
Der Hauptfaktor sind die tiefen oder gar negativen Realzinsen. Die Opportunitätskosten für das Halten von Gold sind damit sehr tief. Die Perspektive von weiter tief bleibenden Realzinsen spielt hier eine wichtige Rolle. Denn es besteht die Möglichkeit, dass die amerikanische Notenbank ab September eine Kontrolle der Zinskurve einführt, was wir aus Japan kennen. Wenn gleichzeitig eine Normalisierung der Inflationserwartungen eintrifft, könnten die Realzinsen noch tiefer gehen und für eine lange Zeit dort zementiert werden.
Auch hier ist die amerikanische Notenbank Fed tonangebend. Würden Sie denn ganz allgemein sagen «The Fed owns the market»?
Offiziell darf die Fed keine Aktien kaufen. Inoffiziell haben Sie wohl recht. Indem die Fed massiv auf dem Kapitalmarkt interveniert – nicht nur in Bezug auf die Liquidität, sondern auch durch die Sicherstellung der Bonität von Unternehmen und definitiv in Bezug auf die tiefen Realzinsen –, hat dies einen massiven Einfluss auf die Aktienmärkte. Und wenn die Zinskontrolle Tatsache wird, dann spielt die Fed eine noch wichtigere Rolle.
Wir befinden uns in einem neuen Fahrwasser?
Das Ganze hat schon nach der Finanzmarktkrise 2008 begonnen, nur das Ausmass wird jetzt immer grösser. Wir bewegen uns in einer Welt, wo die finanzielle Repression zementiert wird. Zwei weitere Konsequenzen davon: Die Investoren müssen mehr Risiken eingehen, um eine Rendite zu erzielen. Und es gibt zunehmend eine Kooperation zwischen der Geld- und Fiskalpolitik. Defizite von Staaten werden durch die Notenbanken finanziert.
Was sind die langfristigen Kosten dieser Politik?
Die langfristigen Kosten liegen darin, dass ein grosser Teil der Ressourcen einer Gesellschaft für weniger produktive Mittel verwendet werden. Wenn schlecht geführte Staaten oder Unternehmen mit schwachen Businessmodellen finanzielle und andere Ressourcen für sich beanspruchen, fehlen diese anderswo. Die Kosten werden die nächsten Generationen in Form eines tieferen potenziellen Wachstums tragen.
Anastassios Frangulidis ist Chefstratege bei Pictet Asset Management.