Laut Nachwahl-Befragungen am Donnerstag können die britischen Sozialdemokraten mit 410 der 650 Sitze im Unterhaus rechnen. Parteichef Keir Starmer wird damit aller Voraussicht nach nächster Premierminister. «An alle, die im Wahlkampf für die Labour-Partei gekämpft haben, an alle, die uns ihre Stimme gegeben und ihr Vertrauen in unsere erneuerte Partei gesetzt haben – danke», schrieb er in einer ersten Stellungnahme auf X. Die regierenden Tories des amtierenden Premierministers Rishi Sunak landeten abgeschlagen bei 131 Sitzen.

Die Liberaldemokraten können mit 61 Mandaten rechnen, die rechtspopulistische Reform UK des Brexit-Hardliners Nigel Farage kommt den Prognosen zufolge auf 13 Sitze. Die offiziellen Ergebnisse werden am frühen Freitagmorgen erwartet, die Prognosen gelten jedoch als ziemlich genau. Es wird damit gerechnet, dass Sunak noch am Freitag beim König seinen Rücktritt einreicht. Anschliessend soll Starmer König Charles aufsuchen, der ihn dann bitten wird, eine Regierung zu bilden. Danach wird der neue Premierminister vor seinem Amtssitz Downing Street eine Ansprache an die Briten halten. Die Thronrede des Königs, die das Programm der neuen Regierung darlegt, ist für den 17. Juli geplant.

Starmer ist seit 2020 Labour-Chef. Sein Wahlkampf konzentrierte sich auf das Versprechen, einen «Wandel» herbeizuführen. Damit spielte er auf die Wut vieler Briten über den schlechten Zustand des öffentlichen Dienstes, etwa im Gesundheitswesen, und über den seit Jahren sinkenden Lebensstandard an. Für Labour kommt die Prognose einer Wiederauferstehung gleich. Noch vor drei Jahren steckten die britischen Sozialdemokraten unter ihrem damaligen, links ausgerichteten Vorsitzenden Jeremy Corbyn in einer existenziellen Krise.

Labour steht vor schweren Aufgaben

Starmer steht vor grossen Problemen. Immer noch leiden viele Menschen unter den Folgen der hohen Inflation. Neben den Problemen im öffentlichen Dienst und im Schulsystem ist die Migration besonders umstritten. Viele Briten erwarten eine deutliche Begrenzung der Einwanderung. Wegen knapper Kassen hat der neue Regierungschef aber nur einen geringen politischen Spielraum, um etwa mit klassisch sozialdemokratischer Politik wie höheren Staatsausgaben gegenzusteuern.

Im Wahlkampf hatte Starmer die Ankurbelung der Wirtschaft zu seinem wichtigsten Ziel erklärt. Geplant ist unter anderem ein Nationaler Wohlstandsfonds, der mit 7,3 Milliarden Pfund (8,6 Mrd Euro) ausgestattet werden soll. Jedes daraus ausgegebene Pfund soll drei Pfund privater Investitionen mobilisieren. Geplant ist auch ein Schub für umweltfreundliche Energieerzeugung. Bis 2030 soll die an Land gewonnene Windenergie verdoppelt, die Solarenergie verdreifacht und die Offshore-Windenergie vervierfacht werden. 8,3 Milliarden Pfund (9,8 Mrd Euro) sollen in das zu gründende staatliche Unternehmen Great British Energy fliessen.

Auf Steuererhöhungen will Labour verzichten. In der Haushaltspolitik wird einer von Sparzwängen bestimmten Austeritätspolitik eine Absage erteilt. Angestrebt werden aber ausgeglichene Haushalte, in denen sich Ausgaben und Einnahmen die Waage halten.

Tories steuern auf historische Niederlage zu

Für die Tories war ihr Wahldebakel noch 2019 undenkbar gewesen. Damals errang Boris Johnson einen grossen Sieg für die Konservativen. Aber unter Johnson und seiner Nachfolgerin Liz Truss zerstörten interne Grabenkämpfe, eine verfehlte Finanzpolitik und Skandale wie nicht eingehaltene Corona-Regeln das Vertrauen in die Regierung. Zudem blieb der als Konsequenz des Brexit versprochene wirtschaftliche Aufschwung aus, dagegen ging es zahlreichen Branchen nach dem Ausscheiden aus der EU schlechter.

Aber auch Sunak machte Fehler. So verärgerte er Veteranen des Zweiten Weltkriegs, als er vorzeitig die Feierlichkeiten zum Gedenken an den D-Day für ein TV-Interview verliess. Auch parteiintern wurden Zweifel an seinem politischen Geschick angemeldet, weil er die Parlamentswahl recht früh angesetzt hatte und dies im Regen stehend ankündigte.

«Sollte die Nachwahlumfrage zutreffen, wäre das eine historische Niederlage für die Konservative Partei, eine der widerstandsfähigsten Kräfte in der britischen politischen Geschichte», sagte der Experte des Meinungsforschungsinstituts Ipsos, Keiran Pedley, Reuters.

(Reuters)