cash.ch: Der Swiss Market Index (SMI) hat seit Jahresbeginn wegen der steigenden Zinsen und den konjunkturellen Abschwächung 17 Prozent verloren. Was sind Ihre drei wichtigsten Lehren, die Anlegerinnen und Anleger aus dem turbulenten Börsenjahr 2022 ziehen sollten?
Fabienne Hockenjos-Erni: Erstens war es ein Börsenjahr, in dem alles - egal ob Kryptowährungen, Aktien, Immobilien oder Obligationen - Verluste einbrachte. Viele haben in den letzten Jahren vergessen, dass Finanzanlagen Risikoanlagen sind. Es ist eine schmerzhafte, aber gesunde Entwicklung, da viele Anlegerinnen und Anleger nach den 'fetten' Jahren fast blind investiert haben. Zweitens sollte man seiner Anlagestrategie treu bleiben. Disziplin haben wir Menschen zwar nicht so gern, aber es ist trotzdem ein Erfolgsrezept an den Finanzmärkten. So sollte man bei Rückschlägen wie in diesem Jahr nicht panikartig verkaufen und so allenfalls eine Rallye verpassen. Das Abseitsstehen kann teuer werden. Drittens kann aktives Management Wert generieren, indem man sich dem veränderten Umfeld anpasst und nicht blind in passiven Anlagen verbleibt.
Warum war passives Anlegen im Börsenjahr 2022 eine schlechte Strategie?
Wir haben einen Markt erlebt, wo selbst grosse Divergenzen zwischen einzelnen Aktien aus demselben Sektor auftauchten. Im Schweizer Markt stammt das augenscheinlichste Beispiel aus dem Finanzsektor: Im SMI steht zuoberst und zuunterst ein Finanzunternehmen. Der Versicherungskonzern Zurich kommt seit Jahresbeginn plus 10 Prozent, während die Grossbank Credit Suisse 66 Prozent verliert. Bei einem SMI, der eine Gesamtrendite von minus 16 Prozent abgeworfen hat, konnte man mit dem Setzen auf die richtigen Aktien etwas rausholen.
Halten Sie grundsätzlich nicht viel vom passiven Investieren mit ETF?
Dies kann man so nicht sagen! Wir haben selbst passive Produkte, die zusätzlich Nachhaltigkeitskriterien berücksichtigen und damit langfristigen Chancen und Risiken Rechnung tragen. Aber aktives Management kann im aktuellen Umfeld zusätzlich Wert schaffen, während man beim passiven Investieren von der generellen Marktentwicklung abhängig ist. Wir haben ein Jahr erlebt, in dem man eine extreme Outperformance erzielen konnte, wenn man auf Stock Picking gesetzt hat.
«Tina rules the world» sagten Sie Anfang 2022 in einem Interview mit cash.ch. Stehen Sie weiterhin hinter dieser Aussage?
Ein ganz klares 'Jein'. Tina - 'There is no Alternative' zu Aktien - weicht jetzt dem Ausdruck Tara - 'There Are Reasonable Alternatives'. Wir haben begonnen unsere Untergewichtung bei Obligationen abzubauen, weil diese mit dem Zinsschub von diesem Jahr zukünftig wieder eine Alternative bieten. Um Aktien kommt man in dem von Inflation geprägten Umfeld dennoch nicht herum. In den USA sind die Realzinsen bereits auf einem ansprechenden Niveau bei den Anleihen. In der Schweiz haben wir zwar wieder einen Zins, aber real befindet man sich wegen der Inflation stärker im Minus als dies zuvor der Fall war. So landet man wieder bei Tina und Aktien. Man muss in Anlageklassen investieren, die einen gewissen Inflationsschutz mitbringen.
Warum ist der defensive Charakter des Schweizer Aktienmarkts für den Jahresstart so interessant?
Wir gehen von einem verhaltenen Jahresstart aus. Und dort helfen die defensiven Charakteristiken von SMI oder SPI. Und nach dem ersten Quartal gibt es spannende Opportunitäten am Markt. Wir glauben, dass gewisse Titel zu stark korrigiert haben. Mit ihrer Positionierung in spannenden Wachstumsmärkten sind viele Schweizer Unternehmen mittelfristig für Investitionen spannend.
Inwiefern spielt es für Ihre Einschätzung eine Rolle, dass es in der Schweiz sehr viele gute Dividendenzahler hat?
Auf die Dividendensaison hin haben diese Titel immer ein psychologisch positives Momentum. Wobei dieser Effekt mit steigenden Zinsen wieder abnimmt. Aber es ist schon so: Investoren sind immer noch auf die guten Dividendenzahler fokussiert, die der Schweizer Markt mit sich bringt.
Welcher Markt interessant ist, hängt aber auch damit zusammen, wie sich die Währungen zueinander entwickeln…
Absolut. Dies war ein ganz wichtiger Punkt in den letzten paar Wochen. Dass der Dollar sich abgeschwächt hat, hat den Schweizer Investoren mit Investitionen in den USA nicht geholfen. Die Rally egalisiert sich währungsbereinigt wieder.
Wird sich die Dollarschwäche das nächste Jahr fortsetzen?
Wir gehen weiterhin von einem starken Dollar aus, da unter anderem die Zinsdifferenz und die bestehenden globalen Unsicherheiten diesen begünstigen.
Anlegerinnen und Anleger können nach den Zinserhöhungen und der negativen Marktreaktion von letzter Woche die Hoffnung auf eine Fortsetzung der Rally wohl definitiv abschreiben. Oder sehen Sie noch Hoffnung?
Ich bin ungern der Bär, aber die nächsten paar Wochen könnten schwierig bleiben. Den Aufschwung, der von Anfang Oktober bis vor kurzem angedauert hat, erachten wir als eine Bärenmarktrallye.
Das klingt nicht wirklich optimistisch. Was dürfen Anlegerinnen und Anleger insgesamt vom Börsenjahr 2023 erwarten?
Dass die Notenbanken zuletzt mit einer restriktiven Haltung aufgetreten sind, hilft der Börsenstimmung nicht. Im ersten Quartal wird sich auch die Volatilität an den Märkten wieder erhöhen. Ich erwarte wegen der Konjunkturlage, den sportlichen Gewinnerwartungen und den anhaltenden Zins- und Inflationssorgen einen verhaltenen Start. Auch die Entwicklung der Covid-Pandemie in China drückt die Stimmung. Wenn die schwierige Startphase durch ist, kann es aber sehr spannende Opportunitäten geben. Ich erwarte kein schlechtes Börsenjahr 2023.
Wo sehen Sie die grössten Opportunitäten?
Im Jahresverlauf sollte eine Erholung stattfinden, wo gerade die stark abgestraften Sektoren oder Aktien wieder Chancen eröffnen. Es gibt Wachstumstitel, die übermässig gelitten haben.
Sie sehen bei Wachstumswerten Chancen. Ist die Bewertungskorrektur aufgrund der steigenden Zinsen schon so weit abgeschlossen?
Ja. Das erste Quartal wird zentral sein, um mehr Transparenz in der Geldpolitik zu erhalten. Für die Notenbanken wird die Konjunktur immer zu einem wichtigeren Thema, so dass sie etwas gegen die Rezessionsgefahr tun müssen. Die Fed wird diesbezüglich wohl wieder zuerst Signale aussenden. Die Leitzinsen werden daher in den nächsten Monaten einen Höchststand erreichen, wobei sich das Erhöhungstempo bereits jetzt verlangsamt hat. Die Anpassung der geldpolitischen Erwartungshaltung an den Märkten wird sich zuerst in Kursrücksetzern materialisieren. Wenn dies passiert ist und die Gewinnerwartungen zurückgekommen sind, dann ist der Nährboden für eine Erholung an den Börsen gelegt.
Wird die Rezessionsgefahr sich 2023 materialisieren?
Global wird eine Rezession wohl nicht eintreten, in Europa wird aber ein moderater Wirtschaftsrückgang stattfinden. Für die USA und die Schweiz rechnen wir mit einem Wachstum von zwischen 0 und 1 Prozent.
Was sind die grössten Marktrisiken im nächsten Jahr?
Bei den Themen Inflation, Zinsen und Rezession ist vieles eingepreist. Und der Krieg in der Ukraine ist menschlich mit extrem grossen Leid verbunden, aber markttechnisch - so tragisch, wie es auch klingt - wahrscheinlich verdaut. Marktrisiken sind trotzdem geopolitische Themen: Dann, wenn die Situation zwischen Taiwan und China oder Russland und dem Westen eskaliert oder die Energieknappheit Ende 2023 in Europa wieder akut wird. Aber auch die Corona-Strategie in China könnte wieder ein Thema werden. Die Lockerung der Zero-Covid-Strategie hat das Gesundheitssystem unerwartet stark getroffen, dass hier die weitere Entwicklung negative Überraschungen bieten könnte.
Ist langfristig gesehen auch der Klimawandel ein Marktrisiko?
Nein, für Anlegerinnen und Anleger ist der Klimawandel eine Chance. Es werden weltweit politische Pakete zur Bekämpfung des Klimawandels geschnürt und so Milliarden-Investitionen in das Thema fliessen, sodass dieses eine der grössten Investment-Opportunitäten darstellt. Wir setzen vor allem auf Unternehmen, mit Produkten und Dienstleistungen, die einen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels mittels Reduktion von CO2-Emmissionen leisten. Dabei fokussieren wir auf Technologien, die zum Beispiel energieffizientes Bauen oder energieeffizienter IT-Infrastruktur begünstigen.
Wie sollen Anlegerinnen und Anleger mit diesem Ausblick bei ihren Investments 2023 vorgehen?
Man sollte eine Anlagestrategie wählen, die auf die eigenen Risikopräferenzen und -fähigkeit abgestimmt ist. Wenn man dabei diszipliniert vorgeht, bringt dies gerade in diesen unsicheren Zeiten Ruhe. Grundsätzlich sollte man das Thema Inflation in der Anlagestrategie abbilden. Das Geld auf dem Konto lassen, bedeutet real einen sicheren Wertverlust. Der Ausdruck 'das Geld arbeiten lassen' wird wieder sehr aktuell, da man nur so den negativen Einfluss der Inflation ausgleichen und übertreffen kann. Wer jetzt noch genügend Cash auf der Seite hat, kann dieses gestaffelt investieren. Und gerade wir Schweizer sind mit unserem Vorsorgegeld bezüglich der Inflation sehr stark exponiert.
Was empfehlen Sie für den Inflationsschutz in der Altersvorsorge?
Der Klassiker sind Gelder in der dritten Säule, die in der Mehrheit nur auf Konten liegen. Diese Vorsorge-Ersparnisse mit einem meist sehr langen Anlagehorizont würde ich wirklich investieren. Ein ganz langweiliger, aber cleverer Tipp für diese Gelder: Mit einem Dauerauftrag anlegen und nicht auf dem Konto liegen lassen.
Auf was sollten Anlegerinnen und Anleger 2023 setzen? Substanzaktien (Value), Zykliker oder Wachstumswerte?
Ich empfehle ein selektives Investieren in Quality-Growth-Aktien. Gute Bilanzen werden wichtiger, wenn die Zinsen steigen. Nicht alles, was beispielsweise als Wachstumswert gehyped worden ist, hat schlussendlich Substanz. Oder Dividenden bei einem Substanzwert sind ja nur dann attraktiv, wenn diese nachhaltig gezahlt werden können. Wenn die Dividende ausfällt, da die Zinsen hochgehen und die Finanzierung teurer wird oder die Rezession stark einschenkt, ist der jetzt attraktiv erscheinende Titel plötzlich ein Fallen Angel. Das ist etwas, worauf Anlegerinnen und Anleger sich in der nächsten Anlageperiode fokussieren sollten. Im aktuellen Umfeld trennt sich die Spreu vom Weizen.
Welche Schweizer Aktien stehen in der Poleposition für 2023?
In der Industrie gibt es interessante Kombinationen zwischen Value und Growth. Wir setzen weiterhin auf Holcim, ABB und Sika. Sie profitieren von globalen Infrastrukturprogrammen oder dem Trend hin zu Digitalisierung sowie Automatisierung. Im Konsumbereich sehen wir bei Givaudan - als Marktführer in der global attraktiven Wachstumsindustrie Aromen- und Duftstoffe – attraktive Renditemöglichkeiten. Im Gesundheitsbereich gibt es spannende Titel wie Tecan oder Lonza, die sich für einen Kauf eignen. Lonza als absolut führender CDMO (Kontrakthersteller) und Tecan als führender Hersteller im Bereich der Laborautomation.
Logitech und VAT empfahlen Sie schon im August wegen der starken Korrektur zum Kauf. Was sind die ausschlaggebenden Kaufargumente?
Als innovativer Anbieter von Computer-Peripheriegeräten ist Logitech sehr gut positioniert um von langfristigen Trends wie Digitalisierung, flexiblen Arbeitsmodellen und Gaming zu profitieren. VAT ist weltweit führend in der Entwicklung und Herstellung von Hochleistungsvakuumventilen und damit ein wichtiger Zulieferer für die Halbleiterindustrie mit sehr hohem Marktanteil. Wir sehen mittel und langfristig hohes Potenzial in der Qualitätsaktie.
Die Krisen-Grossbank Credit Suisse ist nach einem fünften Quartalsverlust in Folge und wegen der Kapitalerhöhung und den Nachrichten zu den Kundengeldabflüssen wenig überraschend die schlechteste Aktie im SMI. Wie gestaltet sich der Ausblick?
Wir haben für die Credit Suisse schon seit langem die Empfehlung 'Untergewichten'. Ich glaube, es wurden jetzt die richtigen Schritte eingeleitet. Das Management ist in einer Beweispflicht, dies auch durchzuziehen. Eine entsprechende Risikokultur zu etablieren, braucht länger und ist deshalb ein beschwerlicher Transformationsprozess. Und auch mit dem neuen saudischen Investor ist es wegen dessen politischen Hintergrund keine einfache Ausgangslage. Für uns ist es zu früh, um das Rating zu erhöhen.
Bei welchen Schweizer Aktien würden Sie ebenso von einem Kauf abraten?
Wir wären vorsichtig beim Chip- und Sensorenhersteller U-Blox. Die Aktie hat sich stark verteuert und ist in den vergangenen Jahren sehr volatil gewesen. Der Titel birgt mehrere Unsicherheitsfaktoren: Die Bilanz weist beispielsweise hohe Forschungs- und Entwicklungskosten auf, wobei es von aussen sehr schwierig zu beurteilen ist, ob diese Investments schlussendlich Wert generieren werden. Mit dem Blick auf den konjunkturellen Verlauf wären wir auch vorsichtig bei zyklischen Titeln wie Adecco.
Fabienne Hockenjos-Erni ist seit Juni 2020 Anlagechefin bei der Basellandschaftlichen Kantonalbank (BLKB). Davor war sie im Unternehmen unter anderem als Head Investment Research tätig. Zu ihren früheren Stationen zählt die Notenstein La Roche Privatbank sowie der Versicherungskonzern Baloise.
Bisher erschienen in der cash-Jahresendserie Märkte: