cash.ch: Fed-Chef Jerome Powell hat am Mittwoch ein weiteres Mal über kleinere Zinserhöhungsschritte in der US-Geldpolitik gesprochen und den Aufwärtstrend an den Börsen weltweit befeuert. Ist der Bärenmarkt vorbei?

Birgitte Olsen: Wie immer ist für Aktienmärkte nicht das Niveau, sondern die Richtung relevant. Inflation und Leitzinsen steigen weniger schnell, die zweite Ableitung dreht ins Negative und somit können wir die Höchstbelastung oder 'peak inflation' hinter uns lassen. Tatsächlich sind europäische und Schweizer Aktienmärkte seit Ende September um 12 Prozent gestiegen, dies nach einer historisch starken Korrektur von minus 20 Prozent und über minus 30 Prozent im Segment der Nebenwerte.

Die Renditekurven von Staatsanleihen signalisieren eine weltweite Rezession. Wie ist Ihre Einschätzung der Konjunkturlage angesichts der weiterhin hohen Inflation?

Von einem globalen Rezessionsszenario für 2023 kann nicht die Rede sein. Schwellenländer, darunter Lateinamerika, Asien und insbesondere Indien sollten solides Wachstum aufweisen. In Europa bleibt die Konjunkturlage prekär und es wird noch viel über Inflation zu reden geben. Frachtraten, Metallpreise und Energiekosten sind zwar von ihren Höchstwerten deutlich zurückgekommen, jedoch braucht es Zeit, bis dies bei Unternehmen und Konsumenten ankommt. Auch bekommen Unternehmen langsam die steigenden Lohnkosten zu spüren. Dies ist jedoch kein Dauerzustand. Ein Grossteil der aktuellen 'Überinflation' ist auf Angebotsschocks in Folge von Corona und dem Krieg in der Ukraine zurückzuführen. Durch die allmähliche Harmonisierung von Angebot und Nachfrage können Preise wieder sinken. Besagtes kann jetzt schon teilweise bei Lieferketten beobachtet werden.

Wie sieht die Lage für die Schweiz aus?

In der Schweiz sind die Inflationswerte bei vergleichsweise tiefen 3 Prozent und die Lohninflation ist viel weniger problematisch verglichen zu Deutschland oder Polen. Schweizer Unternehmen produzieren, dem historisch starken Franken sei Dank, schon lange ausserhalb der eigenen Grenzen und als Europas Werkbank sind die hiesigen Unternehmen der europäischen Konjunktur ebenfalls ausgesetzt. Eine Rezession sollte aber hierzulande vermieden werden können.

Was bedeutet diese Ausgangslage für die Aktienmärkte in den kommenden Monaten?

Nach zwei sehr starken Monaten scheint es vernünftig, mit einer gewissen Konsolidierung zu rechnen. Sogar ein Rückschlag wäre nicht auszuschliessen. Uns interessieren jedoch als Stock Picker viel mehr die einzelnen Bewertungen und fundamentalen Aussichten ausgewählter Unternehmen. Rückschläge können situativ für einen Neueinstieg genutzt werden.

Drohen zukünftig mit den konjunkturellen Gegenwinden nicht weitere Gewinnrevisionen bei den Unternehmen?

Insgesamt sind die Konsens-Gewinnerwartungen für 2023 noch zu hoch - auch dies ist normal, denn Broker und Analysten reagieren mit Verzögerung auf die Grosswetterlage. Wie auch in der Vergangenheit hat aber die Börse das alles schon recht grosszügig vorweggenommen, vor allem in der vermeintlich schwächeren Kategorie der Nebenwerte. Ein Drittel der europäischen Nebenwerte hat schon über 40 Prozent korrigiert, das wäre das Synonym einer sehr eindeutigen Rezession.

Wie schätzen Sie die Bewertungen am Aktienmarkt ein? Mehr Chance oder Risiko?

Auch hier sollte situativ vorgegangen werden, denn es gibt enorme Diskrepanzen zwischen Wachstums- und Valuewerten sowie zwischen defensiven und zyklischen Aktien. Value und Growth erfahren starke Rotationen im Zuge steigender oder eben wieder sinkenden Zinsen. Unsere Fonds sind aktuell ungefähr 50 Prozent in GARP, 25 Prozent in Value und 25 Prozent in Growth investiert (Growth at reasonable prices (GARP) ist eine Investmentstrategie, die Elemente aus Growth und Value Investing vereint, Anm. d. Red.). Diese Diversifikation ist notwendig, solange die Zinslage derart volatil bleibt. In jeder Kategorie finden wir attraktiv bewertete Unternehmen, generell bieten solch enorm starke Marktverwerfungen grosse Opportunitäten. Es ist dann eine Frage von Timing und Handwerk. Zur Zeit haben wir alle Hände voll zu tun und sind aktiv im Austausch mit Unternehmen quer durch Europa. 

Auf welche Sektoren setzen Sie im nächsten Jahr?

Wir erleben einen Umbruch von Jahren der Globalisierung hin zu De-Globalisierungs-Bestrebungen. Der Trend geht in Richtung mehr Kontrolle über die Wertschöpfung und zu einer Vereinfachung der Lieferketten. Das alles bringt einen enormen Bedarf nach Digitalisierung und Automation mit sich. Viele Unternehmen im Industriebereich werden von diesem globalen Infrastruktur-Investment-Zyklus profitieren. Die Themen Energiewende und Energiesicherheit bleiben für uns höchst relevant. Es mangelt an nachhaltigen Energieträgern ebenso wie an Infrastruktur-Lösungen. In dieser Hinsicht gefallen uns in der Schweiz besonders Burckhardt Compression, Huber+Suhner, Gurit, LEM und u-blox.

Welches sind in der Schweiz Qualitätsaktien, auf die man bereits jetzt wieder setzen kann?

Solide Unternehmensfinanzierung, gutes Management und intakte Wachstums- und Profitabilitätsperspektiven sind aus unserer Sicht unabdingbare Qualitätsfaktoren. Unser Bellevue Entrepreneur Swiss Small & Mid Fonds positioniert sich in dieser Kategorie. Ein Blick auf den Aktienmarkt hat gezeigt, dass die Zinswende besonders bei Tech Unternehmen starke Spuren hinterlassen hat. LEM, Inficon und VAT sind auf dem aktuellen Kursniveau wieder interessant.

In diesen volatilen Börsenzeiten sind insbesondere Dividendentitel, die ein regelmässiges Einkommen generieren, wichtig. Welches sind Ihre Favoriten?

Wir interessieren uns ausschliesslich für die von Unternehmen generierten Cashflows. Ob diese besser ausgeschüttet oder zurück ins Unternehmen fliessen werden sollten, hängt nur von der erwarteten relativen Rendite ab. Unternehmen, die ihre Gewinne in eigenes Wachstum zu überdurchschnittlichen Erträgen investieren können, sollten dies tun. Damit steigt ihre Bewertung und die Aktionäre profitieren stärker davon. 

Wo sehen Sie bei eher volatilen Schweizer Nebenwerten interessante Unterbewertungen?

Gurit, u-blox, Montana Aerospace und Swissquote haben entweder enorm stark korrigiert oder handeln wie u-blox auf extrem tiefen Bewertungsniveaus.  

Bei welchen Titeln sehen Sie noch ein Abwärtsrisiko?

Nach fast zwei Jahrzehnten geprägt von fallenden Zinsen haben die Bewertungen defensiver Wachstumstitel stets neue Höchstwerte erreicht. Diese Entwicklung hat aufgrund der jüngsten Zinsbewegung einen 'Reset' erfahren und solche Multiples dürften bei einer strukturell höheren Inflation nicht wieder erreicht werden.

Ein weiteres Sorgenkind hierzulande ist Zur Rose, deren Aktien seit Jahresbeginn 88 Prozent verloren haben. Sollen Investoren hier wieder zugreifen, da das E-Rezept in Deutschland auf der Zielgeraden ist?

Optimal wäre Ende November gewesen! Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat laut Fachmagazin Apotheke Adhoc bekräftigt, dass das E-Rezept Mitte 2023 endgültig kommen soll, daraufhin stieg die Aktie von Zur Rose allein am letzten Donnerstag um 15 Prozent an. Ein Kursverlust von über 80 Prozent ist spektakulär und nicht gewöhnlich. Entweder gehen solche Unternehmen in die Insolvenz oder der Aktienkurs verdoppelt sich anschliessend. Shorts werden derzeit geschlossen, das ist ein guter Start für eine Neubewertung.

Birgitte Olsen, CFA, Senior Portfolio Manager Aktien Europa, trat 2008 bei Bellevue Asset Management ein. Davor war sie über neun Jahre bei Generali Investments in Köln als Stellv. Leiterin für das Portfolio Management Aktien Europa zuständig.  Als Fund Manager (DE und Skandinavien) arbeitete sie 1997 und 1998 bei Vontobel Asset Management in Zürich. Birgitte Olsen startete ihre Karriere in der Finanzbranche 1994 als Sell-Side Analyst bei der Bank am Bellevue für die Sektoren Versicherungen und Pharma. Sie hat ein Studium in  Finanz- und Rechnungswesen an der Universität St. Gallen abgeschlossen.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

ManuelBoeck
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