cash.ch: Als Technologie-Investor wird sie die Marktlage derzeit wenig erfreuen. Werden die derzeitigen Turbulenzen bald enden?
Rolando Grandi: Der Markt preist im Moment seine höhere Inflationserwartung immer noch ein. Und das überraschend starke Wachstum 2021 lässt die Fed stärker in Richtung Zinserhöhungen kommunizieren. Wir müssen auch noch abwarten, bis die Engpässe etwa bei Halbleitern enden. Alles in allem erwarte ich, dass im ersten Halbjahr 2022 eine Normalisierung eintritt.
Ihr Anlagegebiet Artificial Intelligence, kurz AI, gehört am Aktienmarkt zu den Tech- respektive Growth-Aktien. Für diese hat sich die Lage 2021 ziemlich verschlechtert. Wie gehen sie mit hohen Bewertungen um, während die Anleihenzinsen steigen und damit Growth-Anlagen unter Druck bringen?
Natürlich sind es Growth-Aktien, weil ja auch der zugrundeliegende Markt stark wächst - und zwar exponentiell. 2021 ist bisher ein herausfordendes Jahr gewesen. Der Markt hat sich extrem auf Unternehmen konzentriert, die unter der Covid-Krise litten und sich dann erholt haben. Aber bei diesen werden sich die Wachstumsraten wohl 2022 normalisieren. Growth- und vor allem AI-Aktien werden von einem Wachstum weit über den generellen BIP-Raten getragen werden.
Derzeit müssen Sie aber mit weiterer Volatilität leben.
Ja, das müssen wir, aber die Strategien, in die wir investieren, wirken sich vor allem in der langen Frist aus. Die Gelegenheiten sind einzigartig. AI ist eine der Revolutionen, die sich alle 10 bis 20 Jahre ereignen.
Alle Prognosen sagen, dass Artificial Intelligence (AI) und deren Anwendungen enorm wachsen werden. Über was für einen Markt sprechen wir?
Wir reden über drei Dinge: Wie schnell die Technologie wächst, wie schnell sich die wirtschaftlichen Umstände entwickeln und was die Anlagemöglichkeiten sind. Wenn wir über die Technologie sprechen, geht es zunächst um 'Deep Learning'. Die Basis dafür sind künstliche neuronale Netzwerke mit Algorithmen, die selbst lernen können. Der US-Chiphersteller Nvidia hat berichtet, dass sich die Grösse der heutigen neuronalen Netzwerkalgorithmen alle zwei Monate verdoppelt. Das ist ein exponentielles Wachstum! Dies gibt eine Vorstellung davon, wie schnell sich die Technologie entwickelt.
Und wie verhält es sich mit den wirtschaftlichen Umständen?
Die AI-Technologie wird alltäglicher und überall in der Wirtschaft übernommen, muss sich aber auch neuen Herausforderungen stellen. Autonomes Fahren oder AI für neue medizinische Behandlungen sind zwei grosse ökonomische Chancen. AI-Unternehmen wachsen annualisiert derzeit um rund 30 Prozent. Dies ist jedenfalls die Erwartung für die nächsten drei Jahre. Bei der Weltwirtschaft erwartet man, dass sie um 3 Prozent pro Jahr wachsen wird. AI wächst also zehnmal stärker als die Weltwirtschaft.
Auch ihr 2018 gegründeter Fonds hat auf das Jahr gerechnet 30 Prozent Rendite erzielt. Aber der Markt preist hohe Erwartungen auch schnell ein.
Das Denken der Marktteilnehmer ist normalerweise eher linear statt exponentiell. Aber Innovation, und das sehen wir seit 100 Jahren, überrascht immer positiv. Wir sehen zum Beispiel das US-Softwareunternehmen Datadog, das spezialisiert ist auf Überwachungssysteme in der Informatik. Dieses Unternehmen wird den Erwartungen zufolge 2021 den Umsatz erzielen, den wir eigentlich für 2023 erwartet hatten. Die meisten Investoren und Analysten konzentrieren sich bei AI immer noch auf lineare Prognosen, wenn wir uns doch auf exponentielle Prognosen konzentrieren sollten. Zumindest langfristig.
70 Prozent der Unternehmen wenden bestimmte Formen von AI an. Wer allerdings nach AI-Aktien Ausschau hält, landet zuerst schnell bei grossen und bekannten Tech-Namen, die AI einsetzen - Apple, Alphabet, Microsoft. Oder Chip-Unternehmen wie Nvidia oder Micron, die AI erst ermöglichen. Dies sind aber keine ‹reinen› AI-Player. Muss man dies in Kauf nehmen?
Wir sind derzeit nicht in Apple, Facebook oder Google investiert. Diese Aktien sind vor allem mit einer bereits erfolgten technologischen Revolution verbunden, nämlich dem Internet und dem Smartphone. Sie gehören heute zu den grössten Unternehmen der Welt und mit ihrer Grösse sind sie überall involviert, auch bei AI. Dies heisst aber nicht, dass man automatisch in sie investieren muss, wenn man AI-Opportunitäten sucht. Das Potential bei Aktien mit einer fokussierterer AI-Thematik ist grösser.
Wie schliesst man dann die ‹üblichen Verdächtigen› aus?
AI ist wie Elektrizität. Eine universelle Technologie, die von jedem Unternehmen auf der Welt gebraucht werden wird. Versicherungen, Logistiker, die Landwirtschaft: Mehr und mehr Unternehmen oder Sektoren optimieren ihr Geschäft mittels AI, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Damit wird spezifisches Stock Picking natürlich mit der Zeit schwieriger. Unsere Investoren kennen oft die Gesellschaften kaum, in die wir investieren.
Sind diese so unbekannt? Nennen Sie Beispiele!
Natürlich kennen die meisten Nvidia, das Unternehmen, dass die AI-Landschaft dominiert. Aber uns interessiert auch ein Unternehmen wie Snowflake, das eine Daten-Cloud zur Verfügung stellt. Unternehmen beim Datenmanagement zu helfen ist die Grundlage von AI, weil Daten die Grundlage für Algorithmen sind. Snowflake wird eines der 'nächsten FAANG'. Oder: Warum investiert man in das US-Versicherungsunternehmen Lemonade? Weil dieses Unternehmen sich in allem die Vorzüge von AI zunutze macht. 80 Prozent beispielsweise bei der Schadenabwicklung sind AI-gesteuert.
Die Suche nach gelisteten und investierbaren ‹pure-play›-Unternehmen, also solchen, die sich rein auf AI konzentrieren, stellt man sich aber eher schwierig vor.
Es wird einfacher. Eine grössere Zahl von privat gehaltener Unternehmen sind mittlerweile an die Börse gegangen. 2018 zählten wir 80 Unternehmen zum Anlageuniversum, jetzt sind es 300. Das seit Mitte 2020 gelistete Unternehmen Zoominfo etwa - nicht zu verwechseln mit dem Videokonferenzunternehmen Zoom - ist 100 Prozent AI-gesteuert. Algorithmen greifen Daten im Internet ab, um eine smarte Kundenbetreungs-Software zu bauen. Der 272-Milliarden-Dollar-Konzern, Salesforce, macht etwas ähnliches, aber stellt gewissermassen nur das 'Büchergestell' her. Eine Firma wie Zoominfo füllt dieses Gestell mit Büchern.
Wie genau definieren Sie denn ein AI-Unternehmen?
Es braucht vier Kriterien: Erstens, woher ein Unternehmen Daten bezieht und wie es diese verarbeitet. Zweitens, was für Cloud-Kapazitäten es hat, weil AI über die Cloud angewandt wird. Drittens, was für Methoden bei neuronalen Netzwerken und Deep Learning angewendet werden, also die Frage nach der Technologie im Hintergrund. Viertens schliesslich ist die Anwendung wichtig. Diese muss neue Märkte öffnen oder in der Lage sein, in bestehenden Märkten Marktanteile zu gewinnen.
Im Gegensatz zu grossen Tech-Unternehmen, deren Aktien in den vergangenen Jahren hohe Kurssteigerungen erlebt haben, sind kleinere Unternehmen an der Börse sehr volatil. Um zwei Beispiele zu nennen, die bei AI-Anlegern stark beachtet werden: c3.ai oder Blue Prism Group haben in letzer Zeit deutlich verloren.
Weil diese Geschäftsmodelle noch neu sind, ist es für Investoren schwieriger, die Unternehmen eingehend zu bewerten. Indem Unternehmen aber ihre Erfahrungsbilanz aufbauen, verringert sich die Volatilität. c3.ai oder Blue Prism Group sind beides exzellente Unternehmen. Das Softwareunternehmen c3.ai ist von der Silicon-Valley-Legende Tom Siebel gegründet worden und ist einzigartig in der Software für das Kundenbeziehungsmanagement (CRM).
Weshalb schwankt so ein Aktienkurs trotzdem so stark?
Volatil ist die Aktie, weil das Unternehmen eine sehr konzentrierte Zahl von Kunden hat und die Märkte dies Quartal für Quartal immer wieder neu bewerten. Das Geschäft von c3.ai ist aber absolut langfristig und wächst. Somit muss sich die wirtschaftliche Volatilität reduzieren und damit auch die Volatilität bei Aktienkurs. Blue Prism Group, die Aktie, die Sie auch erwähnten, ist in der Robotik-Prozessautomation tätig. Dies ist ein Gebiet, das wir als eine der absolut führende Anwendungen in der AI betrachten. Blue Prism hilft dabei, Büroarbeiten effizienter zu machen. Die Beteiligungsgesellschaft Vista Equity Partners plant offenbar, Blue Prism zu übernehmen: Dies zeigt, wie attraktiv dieser Sektor ist.
Wie sieht es aus mit weiteren Börsengängen von AI-Unternehmen?
Der private Markt schickt AI-Unternehmen derzeit an die Börse und wird dies auch weiter tun. Privatinvestoren haben nur einen beschränkten Anlagehorizont: Das 'Vintage Year' ist nach fünf bis sieben Jahren. Dies sind gute Nachrichten für jene, die in AI-Aktien investieren wollen, denn es werden neue Unternehmen an die Börse kommen. Aktienmarkt-Anlegerinnen und -Anleger können aber auch profitieren, wenn grosse Unternehmen AI-Firmen übernehmen. Der Bezahlungsdienstleister Square hat in der grössen Übernahme der Firmengeschichte im vergangenen Sommer den Mitbewerber Afterpay übernommen. Auch der Kauf von Tableau Software 2019 war für Salesforce die grösste Akquisition in der Firmengeschichte.
Generell gibt es aber auch Kritik an den vielen Börsengängen, wie wir sie jetzt sehen. Manche sehen dies als Anzeichen einer Übertreibung. Könnten zu viele IPOs dem Markt schaden?
Ich denke, dass viele IPO-Aktivitäten, die wir dieses Jahr sehen, eine Folge der Lockdowns von Anfang 2020 sind, die überall auf der Welt erlassen wurden. Einige Unternehmen verschoben ihre Börsengänge oder verzichteten ganz drauf. Die Börsengänge jetzt sind gewissermassen ein Chatch-Up aus dem letzten Jahr.
Mit welchen Anwendungsgebieten werden Unternehmen an die Börse gehen?
AI-Unternehmen sind überall. Ein aktuell interessantes Gebiet ist die Fernmedizin, die vor allem in China bereits sehr weit fortgeschritten ist und die durch die Covid-Krise noch wichtiger geworden ist. Es werden also Firmen an die Börse gehen, die mit AI-Algorithmen den Zugang zur Gesundheitsversorgung verbessern. Auch in der 'Präzisions-Landwirtschaft' wird sich noch viel bewegen, etwa im Bemühen, den Einsatz von Pestiziden und anderen Mitteln zu verringern. Der Pestizid-Einsatz kann sich mit der richtigen Technologie um den Faktor 10 reduzieren lassen. Und wir werden Börsengänge sehen von Firmen in allen möglichen Bereichen der physischen Automatisierung.
Sie schauen auf Unternehmen aus der ganzen Welt, dies ist klar. Spielt eigentlich die Schweiz bei AI eine grosse Rolle?
Ja, wir schauen natürlich überall. In der Schweiz haben wir noch nicht so viel gesehen. Dies ist aber symptomatisch für ganz Europa, wo man mit AI-Investitionen zurückgelegen hat. Dies ändert sich nun. In den vergangenen zwei bis drei Jahren haben wir eine Beschleunigung bei den privaten Investitionen in AI-Startups gesehen. Neue Gelegenheiten entstehen also gerade!
Rolando Grandi stammt ursprünglich aus Bolivien und studierte an der IAE School of Business in Lyon. Er arbeitet seit 2017 für den Asset Manager La Financière de l'Echiquier (LFDE) in Paris, wo er den Fonds «Echiquier Artificial Intelligence» leitet.