Jeweils Anfang Jahr veranstaltet das US-Anlegermagazin Barron’s den "Barron’s Roundtable". Dort diskutieren zwei Frauen und sieben Männer, denen viel Gewicht in der Börsenwelt zugeschrieben wird, die Marktlage, ihre Aktien-Tipps werden weit beachtet. Die Zeitung Barron’s gibt seit 1921 und konzentriert sich bei der Berichterstattung aufs Investieren.
Zu den festen Grössen des Roundtable gehört auch die 70-jährige Abby Joseph Cohen. Sie ist Professorin an der Columbia Business School in New York, dies allerdings erst seit rund einem Jahr. Zuvor war sie drei Jahrzehnte Anlagestrategin bei Goldman Sachs und galt als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der US-Finanzbranche.
Im "Barron’s Roundtable" - Teil eins wurde im Heft der letzten Woche publiziert - ist Cohen recht zuversichtlich für den S&P 500. Sie sieht den breit gefassten US-Börsenindex Ende Dezember bei 4300 Punkten. Das entspricht einem Aufwärtspotenzial von rund 8 Prozent vom derzeitigen Stand (rund 4000 Punkte).
Cohen geht nicht davon aus, dass die USA in eine Rezession rutscht, obwohl zwei Quartale mit enttäuschenden Wachstumszahlen bevorstehen könnten. Der Arbeitsmarkt werde robust bleiben, und die Unternehmen im S&P 500 würden im Schnitt Gewinne abliefern, die fünf bis 8 Prozent über dem Niveau von 2022 lägen, so Cohen weiter. Die Professorin sieht auch bessere Inflationszahlen in der zweiten Jahreshälfte.
Bewertung von Wachstumsaktien machten 2021 noch Sinn
Cohen machte sich an der Börsenwelt einen Namen, indem sie den Aktien-Bullenmarkt der 1990er Jahre vorhersagte. 1998 und 1999 wurde sie vom Fachblatt "Institutional Investor" als Top-Strategin ausgezeichnet. In dieser Zeit kam es zum ersten Technologieboom, und Cohens Bekanntheitsgrad stieg, als sie ihn weiter optimistisch einschätzte. Allerdings sah Cohen dann weder das Platzen der Dot-Com-Blase ab 2000 noch das Aufkommen der Finanzkrise 2008 voraus.
Cohen sieht 2022 als Jahr des "monumentalen Wandels", denn 2022 markierte das "Ende des billigen Geldes", wie sie am Roundtable weiter sagte. Die Inflation sei 30 Jahren lang unter Kontrolle gewesen und die Zinsen waren tief. Die Bewertungen von vielen Wachstumsaktien hätten 2021 Sinn gemacht, wenn man an ein ewiges Tiefzinsumfeld geglaubt hatte, so Cohen.
Dasselbe galt und gilt auch für Private Equity, Wagniskapital und SPACs (börsenkotierte Mantelgesellschaften). "Hier haben wir noch nicht allen Schaden gesehen», vermutet Cohen und erwartet weitere Korrekturen in den nächsten drei Monaten bei diesen Anlagen.
China und Russland als Risiken
Als mögliche Risiken auf globaler Eben sieht Cohen in diesem Jahr China (mögliche neue Corona-Varianten und ein Konflikt mit Taiwan), Russland (die Ausdehnung des Krieges über die Ukraine hinaus) sowie potenziell schwaches Wachstum in Europa und in Grossbritannien. In den USA warnt sie vor der zunehmenden Polarisierung der Polit-Landschaft.
Zu denken gibt Cohen auch der Verlust der Halbleiter-"Vorherrschaft" der USA in den letzten Jahrzehnten. In den 90er Jahren hätten die Vereinigten Staaten rund 40 Prozent der weltweiten Produktion von Halbleitern auf sich vereinigt, heute seien es noch 15 Prozent, so Cohen. Laut der "Semiconductor Industry Association" decken heute Taiwan und China rund 45 Prozent der weltweiten Chip-Produktion ab.
(cash)