Kurzfristige Preisschwankungen auszunutzen, um günstig einzukaufen und teuer zu verkaufen – das klingt nach einer einfachen Methode, um an der Börse Geld zu verdienen. Doch so logisch die Strategie des Market Timings in der Theorie auch erscheinen mag, in der Praxis ist es nahezu unmöglich, den optimalen Zeitpunkt für den Kauf oder Verkauf von Aktien genau zu treffen. Denn die Marktentwicklung lässt sich weder in wirtschaftlich guten noch in Krisenzeiten vorhersagen.
Die meisten Anlageprofis verzichten daher auf die Timing-Strategie. An der Börse ist nicht das Market Timing entscheidend, sondern die Zeit im Markt. Wer mit dem Markteintritt zu lange wartet, verpasst also Renditechancen. Wenn langfristige Kapitalanlagen ihr volles Potenzial entfalten können, sind erstaunliche Ergebnisse möglich.
Ein bekanntes mathematisches Gleichnis verdeutlicht dies: das Weizenkorn und das Schachbrett. Für die Erfindung des Schachspiels bot ein König dem Erfinder eine Belohnung an. Der Erfinder bat demütig um ein Weizenkorn auf dem ersten Feld eines Schachbretts, zwei auf dem zweiten, vier auf dem dritten und so weiter, wobei er die Anzahl der Körner für jedes der 64 Felder verdoppelte. Der König hielt dies für eine bescheidene Bitte und stimmte zu. Da die Anzahl jedoch exponentiell anstieg, erreichte die Summe der Körner im 64. Feld 18'446'744'073'709'551'615 beziehungsweise 18,45 Quintillionen – eine Menge, die weitaus grösser war als der gesamte Weizen im Königreich, sodass der König verblüfft war und die Belohnung natürlich nicht auszahlen konnte.
Viele Menschen mit mathematischem Verständnis kennen das Prinzip der Aufzinsung, aber das Verhalten an der Börse spiegelt oft nicht das Wissen um seine wahre Bedeutung wider – ansonsten wären Aktien wohl viel beliebter. Eine aktuelle Studie des Wissenschaftlers Hendrik Bessembinder von der Arizona State University verdeutlicht – ähnlich wie das Gleichnis vom Weizenkorn und vom Schachbrett – die aussergewöhnlichen langfristigen Erträge von Aktien.
Die Studie analysierte 29'078 börsennotierte US-Aktien aus der Datenbank des Centre for Research in Security Prices (CRSP) und berechnete die Gesamtrenditen über einen Zeitraum von 98 Jahren, vom 31. Dezember 1925 bis zum 31. Dezember 2023. Diese Renditen spiegeln eine «Buy-and-Hold»-Strategie mit wiederangelegten Dividenden wider und decken den Zeitraum von der Aufnahme einer Aktie in die Datenbank bis zum Delisting oder Ende des Stichprobenzeitraums ab.
Titel | Jahre | Kumuliertes Bruttovermögen pro Dollar | Kumulierte Gesamtrendite |
Annualisierte Gesamtrendite |
Altria Group | 98 | 2'655'290 | 265,53 Millionen Prozent | 16,29 Prozent |
Vulcan Materials | 98 | 393'492 | 39,34 Millionen Prozent | 14,05 Prozent |
Kansas City Southern | 95,95 | 361'757 | 36,17 Millionen Prozent | 14,27 Prozent |
General Dynamics | 97,92 | 220'850 | 22,08 Millionen Prozent | 13,39 Prozent |
Boeing | 89,31 | 212'206 | 21,22 Millionen Prozent | 14,72 Prozent |
Quelle: Bessembinder, Hendrik (Hank), Which U.S. Stocks Generated the Highest Long-Term Returns? (16. Juli 2024).
Natürlich ist die historische Wertentwicklung kein Hinweis auf die zukünftige Wertentwicklung, und Anlagen können im Wert sinken. Regelmässiges Umschichten – mindestens einmal pro Jahr – und die Überprüfung der langfristigen Strategie gehören zum Wesen des Investierens.
Doch aus den Ergebnissen der oben erwähnten Studie lassen sich wertvolle Einsichten gewinnen. Mobeen Tahir, Director für Makroökonomische Forschung & Taktische Lösungen bei WisdomTree, nennt in einem Bericht drei wesentliche Erkenntnisse:
1. Investiert bleiben und Geduld bewahren: Man muss dem Wunder der Aufzinsung die Zeit geben, seine Kräfte zu entfalten. Aus einem Dollar, der in die Altria Group investiert wurde, wurden in 98 Jahren 2,65 Millionen Dollar. Bei einer annualisierten Gesamtrendite von 16,29 Prozent ergibt sich eine erstaunliche kumulierte Rendite von 265,53 Millionen Prozent. Kleine Schritte summieren sich wirklich.
2. Natürlich diversifizieren: Man sollte nicht alles auf eine Karte setzen. «Aus der Studie von Bessembinder geht hervor, dass der Median der kumulierten Gesamtrendite aller Aktien -7,41 Prozent betrug, wobei 51,64 Prozent der Aktien während ihrer Laufzeit eine negative Gesamtrendite aufwiesen», so Tahir. Das zeigt, dass es nicht ausreicht, einfach nur investiert zu bleiben. Man kann immer noch bei den falschen Aktien landen und auf der Jagd nach enormen Renditen seine gesamte Investition verlieren.
Das Wichtigste aber: Die durchschnittliche Gesamtrendite betrug 22'840 Prozent, das heisst, aus einer Investition von 1 Dollar konnten 229,4 Dollar werden. Das ist zwar weit weniger als die unglaublichen 265,53 Millionen Prozent der Altria Group, aber immer noch ein beachtliches Ergebnis, vor allem, wenn man bedenkt, dass das Risiko im Vergleich zu einer Wette auf eine einzelne Aktie oder sogar einige wenige Aktien deutlich geringer ist. „Darüber hinaus unterstreicht das negative Medianergebnis und der stark positive Durchschnittswert, dass die Gewinner das gesamte Portfolio in die Höhe treiben können, selbst wenn es viele Nachzügler gibt.»
3. Nicht zögern: Unsere Emotionen können uns leicht in die Quere kommen. «Wir verfangen uns in Hype-Zyklen, und unsere Angst, etwas zu verpassen (Fear of Missing Out, FOMO), führt dazu, dass wir schlechte Entscheidungen treffen», warnt Tahir. Folglich tappen Anleger häufig in die Falle, zu hohen Preisen zu kaufen und zu niedrigen Kursen zu verkaufen – genau das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigen.
Hat die Altria Group in jedem der letzten 98 Jahre eine Rendite erzielt - oder gab es nicht auch schwache Phasen? Wohl ja. Es gab Zeiten, in denen die Versuchung gross war, zu verkaufen. Aber man sollte laut Tahir daran denken, dass die Versuchung zu verkaufen ein Luxus ist, den sich nur die Anleger leisten können, die noch etwas zu verkaufen haben. Wenn einen die eigene Strategie aus dem Markt gedrängt hat, sind keine Entscheidungen mehr zu treffen.
Diese drei Lehren sind miteinander verflochten. «Wenn Sie sich an eine gut diversifizierte Strategie auf einem Markt halten, der Ihres Erachtens insgesamt wachsen wird, und sich nicht von Emotionen vom Kurs abbringen lassen, können die langfristigen Ergebnisse wirklich bemerkenswert sein,» rät Tahir.
2 Kommentare
Wenn man wie die Altria Group (ehem. Philip Morris) auf Kosten der menschlichen Gesundheit Profit machen möchte.. na dann viel Spass mit dem Gewissen. Ausserdem, wenn man Inflation mitberücksichtigt beim ausgeglichenen Beispiel wird der Dollar nicht ver 229-facht sondern nur verdreizehnfacht über 98 Jahre. Dazu kommen, wie der Vorredner schreibt, Depotgebühren, Dividendensteuern.. hätten sie im Ostblock gelebt wären sie noch von den Kommunisten enteignet worden.. alles in allem keine berauschende Strategie, so weit nach vorn zu schauen. Und was bringen einem die Millionen am Totenbett?
Die Rechnung sieht in der Realität leider nicht gleich positiv aus, wenn man Depotgebühren, Steuern und die Teuerung bzw. Geldentwertung ebenfalls berücksichtigt. Zudem profitieren bei einer so langen Anlagedauer erst die Enkelkinder, so dass je nach Wohnort auch Erbschaftsteuern ein Thema sind.