cash.ch: Im Winter könnte es nicht nur in Europa, sondern auch in der Schweiz zur Gas- und Stromknappheit kommen. Wie ernst ist die Lage?

Angela Truniger: Aus heutiger Sicht ist die Lage sehr schwierig abzuschätzen, da viele einflussreiche und unberechenbare Faktoren im Spiel sind. Die Versorgungslage hängt davon ab, wie kalt der Winter wird, wie stark der Wind weht und wie die Gaslager oder Speicherseen gefüllt sind. Und schliesslich ist Russland eine grosse Unbekannte. Man kann bei einem Fortgang des Ukraine-Kriegs nicht wissen, wie viel Erdgas im Winter von Russland geliefert wird.

Wird mit der Schwarzmalerei übertrieben?

Man darf die Situation nicht unterschätzen. Und es ist gut, dass die Diskussion darüber jetzt stattfindet und der Ernst der Lage erkannt wurde. So gibt es die Möglichkeit, sich auf eine Knappheit beim Strom oder Gas vorzubereiten.

Was ist Ihr Hauptszenario?

Unser Hauptszenario ist, dass in Europa keine Mangellage über eine längere Zeit eintreten wird, da man momentan noch genügend Vorlaufzeit hat, sich darauf vorzubereiten. Es ist aber gut möglich, dass punktuell und kurzfristig eine Knappheit eintritt. Für die Schweiz gehen wir aber davon aus, dass Firmen und Versorger genügend Vorlaufzeit haben, sich auf eine solche Situation vorzubereiten. Eine Mangellage sollte daher nicht eintreffen.

Sie rechnen damit, dass Schweizer Firmen durch Selbstdisziplin den Verbrauch von Gas und Strom drosseln?

Firmen können sich jetzt vorbereiten, die Problematik ist ja in aller Munde. Firmen müssen sich fragen, wo Einsparungen möglich sind. Und es sollten Szenarien entwickelt werden, wie man in einer Mangellage reagieren will. Selbstdisziplin ist hier ein Aspekt, ich denke auch an ein umfassendes Risikomanagement, wo das Denken fürs Unerwartete ein grosser Teil der Arbeit ist.

Damit sprechen Sie die kurzfristigen Massnahmen an, die getroffen werden müssen?

Kurzfristige Massnahmen sind bei den Haushalten und Firmen angebracht, da Versorger ihre Kapazitäten oftmals nicht sofort erhöhen können. Die Bevölkerung sollte über die Notfallpläne Bescheid wissen und sich selbst fragen, wo ein eigener Beitrag geleistet werden kann. Das Offensichtlichste ist, die Heizungen zu reduzieren, nicht eine halbe Stunde lang warm zu duschen und nicht benötigte Geräte komplett vom Strom zu nehmen. Es sind kleine Dinge, die jeder leicht vornehmen kann, aber die in der Summe eine Wirkung entfalten.

Was muss sich auf lange Sicht ändern?

Kurzfristig macht die Verwendung von Gaskraftwerken sicherlich Sinn. Zudem verfügen einige Industrieunternehmen über Zweistoffanlagen, die von Gas auf Erdöl umgestellt werden können. Langfristig sollte man trotzdem auf erneuerbare Energien setzen.

Warum sollte die Schweiz hauptsächlich auf erneuerbare Energien setzen?

Es gibt ein grosses brachliegendes Potenzial in der Schweiz vor allem im Photovoltaikbereich. Zudem muss man die Abhängigkeit von Ländern wie Russland weiter reduzieren. Dies umso mehr im Hinblick auf die Energiestrategie 2050 des Bundes, mit der man das Netto-Null-Emissionsziel erreichen will. Es ist zudem in der Schweiz gesetzlich verboten, neue Atomkraftwerke zu errichten. Die bestehenden werden mit der Zeit abgeschaltet werden. Hier entsteht eine Lücke, die kompensiert werden muss. Es führt daher kein Weg an erneuerbaren Energien vorbei.

Ein solcher Ausbau geht aber zu Lasten der Netzstabilität…

Ja, das Stromnetz wird mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien schwankungsanfälliger. Der Faktor Wetter wird dadurch immer wichtiger. Die Schweiz hat diesbezüglich mit den Stauseen und Flusskraftwerken als Stromspeicher einen Vorteil. Da auch in Europa erneuerbare Energien ausgebaut werden, sind Schwankungen beim Strom trotzdem absehbar. In diesem Hinblick muss die Schweiz eigenständiger werden.

Werden wir als Folge der aktuellen Energiekrise in der Schweiz nicht eine Renaissance der Atomenergie erleben?

Nein, davon gehe ich nicht aus. Das Stimmvolk hat 2017 entschieden, dass man keine neuen Atomkraftwerke mehr bauen will. Andererseits weiss man jedoch nicht, wie sich die Technologie weiterentwickeln wird. Es könnten sich auch in der Atomenergie neue Möglichkeiten auftun. Sicher ist hingegen: Wenn es zu Engpässen in der Stromversorgung kommt, könnten die Abschalttermine von bestehenden und als sicher eingestuften Atomkraftwerken nach hinten verschoben werden.

Trotz der grossen Abhängigkeit vom Ausland bei der Energieversorgung ist die Schweiz nicht in den europäischen Strommarkt eingebunden. Ein Nachteil?

Das Schweizer Stromnetz ist rein von der geografischen Lage her eng mit Europa verknüpft. Darum ist es für die Schweiz wichtig, dass sie beim grenzüberschreitenden Stromhandel mitberücksichtigt wird. Dies ist im Moment nicht der Fall und kann die Netzstabilität gefährden. 

Wie sehr braucht die Schweiz ein Stromabkommen mit der EU?

Durch den Abbruch des Institutionellen Rahmenabkommens mit der EU ist auch das Stromabkommen nicht zustande gekommen. So hat die Schweiz keine Garantie, dass die Nachbarländer bei einem Versorgungsengpass aushelfen. Dies führt im Extremfall zu einer Gefährdung der Netzstabilität. Es sollte daher das Ziel sein, dass die Schweiz in den europäischen Strommarkt eingebunden wird.

Schlussendlich ist aber auch die EU auf ein Stromabkommen angewiesen?

Ja, auch die EU ist auf eine Lösung angewiesen. Wenn Strom von Deutschland nach Italien fliesst, hat die EU ein Interesse an der Netzstabilität hierzulande. Die Schweiz ist ein wichtiges Transitland für Europa und kann ohne grosse Kosten nicht umgangen werden.

Die Energiekrise schlägt auch aufs Portemonnaie von Konsumentinnen und Konsumenten durch. Mit welchem weiteren Aufschlag rechnen Sie in der Schweiz?

Die Stromunternehmen müssen ihre neuen Tarife bis Ende August der Eidgenössischen Elektrizitätskommission ElCom vorlegen. Danach prüft die ElCom die Tarife. Im September wird dann bekanntgegeben, wie stark die Preise bei den einzelnen Versorgern steigen werden. Strom wird sicherlich teurer, doch eine punktgenaue Prognose ist schwierig. Man liest immer wieder, dass der Anstieg im Schnitt zwischen 20 und 30 Prozent betragen wird. 

Welche Faktoren beeinflussen den Aufschlag?

Der Aufschlag hängt davon ab, wie die Beschaffungsstrategie des einzelnen Versorgers gestaltet ist. Bei den Versorgern, die die Strompreise über eine längere Zeit abgesichert haben, sollte der Preisanstieg weniger stark ausfallen. Dies gilt auch, wenn ein Versorger über eigene Kraftwerke verfügt und nicht oder nur wenig am Markt Strom einkaufen muss. Die Gaspreise werden sicherlich stärker steigen als die Strompreise, da der Energieträger vollumfänglich aus dem Ausland importiert wird. Die Haushalte, die den Anbieter nicht auswählen können, werden durch die ElCom in Schutz genommen. Im Grosshandel, wo sich Unternehmen mit Strom eindecken können, ist der Preisaufschlag deutlich höher.

Rechnen Sie damit, dass der Strompreis langfristig hoch bleiben wird?

Solange sich die Situation in der Ukraine nicht zum Besseren wendet, werden die Schwankungen beim Gaspreis erhöht bleiben. Dies wird sich auch auf den Strommarkt auswirken, da der Gaspreis ein wichtiger Treiber ist. Die momentanen Ausschläge sind aber schon aussergewöhnlich und der Strompreis wird wohl im nächsten Jahr wieder leicht sinken. Denn das Erdgas-Angebot dürfte in Europa zunehmen, da der Rohstoff dank zusätzlicher LNG-Terminals zunehmend von anderen Ländern als Russland bezogen wird. Auch die französischen AKWs werden wieder einen grösseren Beitrag leisten. Aufgrund von Wartungen sind aktuell 50 Prozent der Anlagen in Frankreich nicht an das Stromnetz angeschlossen. Eine gewisse Entspannung ist daher absehbar, aber die Preise werden auf einem erhöhten Niveau verbleiben, da die Stromnachfrage weiter hoch bleiben wird.

Was bedeuten die steigenden Energiepreise für die Versorger?

Man kann davon ausgehen, dass Stromversorger von den steigenden Strompreisen profitieren und mehr verdienen werden.

Diese Aussage gilt aber nicht für den in Schieflage geratenen deutschen Versorger Uniper?

Uniper ist eigentlich ein Energiehändler und stark exponiert gegenüber russischem Gas. Da Russland die Lieferungen nach Deutschland gekürzt hat, musste Uniper, um den vertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Kunden nachzukommen, am Markt Gas teuer einkaufen. So ist der Konzern in ein Liquiditätsproblem hineingeschlittert und musste vom deutschen Staat gerettet werden.

Sehen Sie ausserhalb von Uniper andere grosse Verlierer?

Nein.

Uniper wurde an der Börse dieses Jahr auch mit minus 85 Prozent abgestraft. Mit RWE konnte hingegen ein anderer deutscher Versorger mit einem Kursplus von 21 Prozent überzeugen. Warum?

RWE befindet sich in einer Transformation zu einem erneuerbaren Energieversorger. Erneuerbare Energien haben aufgrund des Ukraine-Kriegs noch mehr Auftrieb bekommen, wovon RWE profitieren wird. Der Ausbau an erneuerbaren Energien wird stärker forciert, um die Abhängigkeit von Russland zu reduzieren. Der Konzern hat zudem noch ein paar stillgelegte Kohlekraftwerke, die im Notfall und durch die Aufforderung des deutschen Staates reaktiviert werden können.

Welche anderen Versorger sehen Sie in der Poleposition, um in der aktuellen Marktlage als Gewinner dazustehen?

In der Schweiz sehe ich BKW positiv. Der Konzern fokussiert sich nicht nur auf die Produktion und Auslieferung von Strom, sondern ist auch als Infrastruktur- und Energiedienstleister tätig. Der Dienstleistungsbereich hat gute Wachstumsaussichten. BKW profitiert dort von den Megatrends Elektrifizierung und Urbanisierung. Im Energiebereich will BKW die erneuerbaren Energien stärker fördern, was insgesamt positiv zu bewerten ist. Zudem hat der Konzern genügend eigene Kraftwerke, um die grundversorgten Kunden in der Schweiz zu beliefern. BKW ist hinsichtlich des Stroms deshalb nicht auf das Ausland angewiesen. Langfristig werden sich auch die höheren Strompreise positiv auf den Geschäftsverlauf auswirken.

Warum erst langfristig?

Die höheren Strompreise werden sich erst mit der Zeit auf die Gewinnentwicklung auswirken, da viele Versorger Absicherungsgeschäfte für die Strompreise über mehrere Jahre im Voraus tätigen. Ein Grossteil der Versorger beschafft sich einen Teil des benötigten Stroms am Markt, deshalb wird der Preisanstieg je nach Beschaffungsstrategie zeitlich verzögert an die Kunden weitergegeben und sich erst sukzessive auf die Gewinnentwicklung durchschlagen.

Warum sollten Anleger Versorger-Aktien in ihrem Portfolio berücksichtigen?

Versorger spielen vor allem in unsicheren Wirtschaftslagen ihre defensiven Qualitäten aus. Sie sind grundsätzlich weniger schwankungsanfällig als zyklische Titel. Sie geben dadurch dem Portfolio zusätzliche Stabilität und bieten gleichzeitig im Marktvergleich attraktive Dividendenrenditen. Zudem besteht für Versorger ein langfristiger Rückenwind, da die Stromnachfrage durch die Megatrends Elektrifizierung, Urbanisierung und Klimawandel weiter zunehmen wird.

Angela Truniger ist seit 2017 Finanzanalystin bei der St.Galler Kantonalbank und für die Sektoren Kommunikationsdienste, Versorger und nichtzyklischen Konsum verantwortlich. Sie verfügt über einen Bachelor (BSc) in Betriebsökonomie mit der Vertiefung Banking und Finance von der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ) und hat kürzlich die Ausbildung zum Master of Science in Banking and Finance an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) abgeschlossen

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