Die südostukrainische Hafenstadt Mariupol ist eines der Zentren des russischen Angriffskriegs gegen die frühere Sowjet-Republik. Bei den Kämpfen um den strategisch wichtigen Ort am Asowschen Meer sind nach Angaben des Bürgermeisters bislang rund 5000 Menschen getötet worden.

Der Ort wirkt in weiten Teilen schon jetzt wie eine Geisterstadt. Bis zum 27. März sind demnach 290'000 Menschen aus Mariupol mit seinen ursprünglich rund 440'000 Einwohnern geflohen. Die übrigen rund 150'000 sitzen augenscheinlich in der Falle, ohne Strom und mit schwindenden Nahrungsmitteln. Warum aber ist die Stadt so umkämpft?

STRATEGISCHE LAGE

Mariupol ist die grösste ukrainische Stadt am Asowschen Meer, das über die enge Wasserstraße von Kertsch an das Schwarze Meer grenzt. Sie liegt rund 70 Kilometer westlich der russischen Grenze und nur ein paar Kilometer entfernt von den seit 2014 kontrollierten pro-russischen Separatistengebieten im Osten der Ukraine. Den Namen hat die Stadt von Maria Feodorowna, die Frau des russischen Kaisers Alexander III, der Ende des 19. Jahrhunderts herrschte. Für Russland ist die Einnahme der Stadt entscheidend für das Ziel, eine Landbrücke von seinem Festland zur 2014 von der Ukraine annektierten Halbinsel Krim zu bilden.

Dann hätte Russland auch die Kontrolle der gesamten ukrainischen Küste am Asowschen Meer übernommen. Damit aber nicht genug, zielen die russischen Streitkräfte darauf ab, die Ukraine auch vom Schwarzen Meer abzuschneiden. Die Hafenstadt Cherson - rund 380 Kilometer westlich von Mariupol - hat Russland bereits unter seiner Kontrolle. Zuletzt unter Beschuss geraten ist auch die Stadt Mykolajiw westlich von Cherson. Militärische Beobachter sind sich sicher, fällt auch diese Stadt unter russische Kontrolle, ist das nächste Ziel Odessa, der größte Hafen der Ukraine. Dann wäre das Land vom Zugang zum Meer gänzlich ausgeschlossen.

WIRTSCHAFTLICHE ROLLE

Schon zu Sowjet-Zeiten war der Hafen von Mariupol für Kohle-Exporte ein Zentrum. Von 1948 bis 1989 trug die Stadt den Namen Chandow, benannt nach einem kommunistischen Führer, der dort geboren worden war. Vor Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar exportierte die Ukraine von Mariupol aus Eisen, Stahl, Getreide und Maschinen. Damit war die Stadt auch ein relevanter Einnahmefaktor für die Regierung in Kiew. Ein ranghoher Industrievertreter bezifferte die Verluste allein aus den Getreide-Exporten auf sechs Milliarden Dollar. Auch Länder, die vom Getreide-Import aus der Ukraine abhängen, dürften dies zu spüren bekommen. Zu den Hauptabnehmern zählen die Türkei, Ägypten und Jemen.

In Mariupol angesiedelt sind die Illitsch Eisen und Stahl Werke, das zweitgrößte metallurgische Unternehmen der Ukraine. Auch Asowstal Eisen hat seinen Sitz in der Stadt, einer der größten Stahlwalzbetriebe des Landes. Der Hafen von Mariupol eignet sich für den Export solcher Güter besonders, weil er tiefergehende Liegeplätze hat als andere Häfen in der Region. Für Russland ist der Hafen auch deshalb ein strategisch wichtiger Ort zur Sicherung von Nachschub für die Streitkräfte und andere Güter für die Regionen im Donbass und auch für die Krim.

DAVID UND GOLIATH

Mittlerweile ist Mariupol zum Symbol für den ukrainischen Widerstand gegen die Angreifer aus Russland geworden. Den Kämpfern vor Ort wird von der ukrainischen Propaganda Heldenstatus verliehen, die einen Kampf ausfechten nach dem biblischen Vorbild von David gegen Goliath. Die ukrainische Regierung, aber auch ausländische Beobachter vergleichen zudem die bislang in Mariupol angerichtete Zerstörung mit der syrischen Stadt Aleppo und der tschetschenischen Hauptstadt Grosny, die die russischen Truppen mehr oder weniger dem Erdboden gleichmachten.

Fiele Mariupol, wäre sie die erste größere ukrainische Stadt, die komplett von den Russen kontrolliert würde. Scheiterten die Russen dagegen, wäre dies nach Ansicht von Beobachtern ein massiver psychologischer Rückschlag für die russischen Truppen, deren Moral ohnehin nicht unbedingt hoch ist. Für die Ukrainer wäre ein Sieg über die russischen Truppen dagegen ein immenser Schub für die eigene Moral und die Entschlossenheit, den vermeintlich übermächtigen Gegner niederzuringen.

Angeheizt wird die Symbolik aus russischer Sicht noch von Berichten, dass das sogenannte Regiment Asow in Mariupol kämpft - eine rechtsgerichtete ukrainische Miliz, die Teil der Nationalgarde ist. Ein Sieg der Russen in Mariupol würde entsprechend dem ursprünglich von Präsident Wladimir Putin ausgegebenem Ziel, mit der "Sonderoperation" die Ukraine zu entnazifizieren, einen Schub verpassen. Der Westen weist dieses Narrativ als Begründung für den Krieg allerdings vehement zurück.

(Reuters)