Wall Street hat beim Geldverdienen selten übertriebene Skrupel. Fast jedes Wertpapier findet zum richtigen Preis einen Käufer - egal, wie fragwürdig der Emittent, wie seltsam die Struktur oder wie unappetitlich die Umstände sind. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine ist da keine Ausnahme. Noch bevor die ersten Raketen in Kiew einschlugen, waren Opportunisten bereits auf Schnäppchenjagd nach russischen Anleihen.

Sie hatten die Qual der Wahl: Fast alle russischen Staats- und Unternehmensanleihen sind trotz der Sanktionen von USA, Grossbritannien und Europäischer Union weiter handelbar. Die Nachfrage ist im Keller, die Renditen daher unter den höchsten der Welt.

Einstieg trotz zerbombter Krankenhäuser

Ein im September 2023 fälliger Eurobond notiert derzeit bei um die 50 Cent pro Dollar. Sollte Russland diese Auslandsschulden zahlen - und das hat es bisher getan - kann man als Käufer heute sein Geld in nur 18 Monaten verdoppeln. Natürlich ist das Risiko erheblich: Der Kampf um die Ukraine kann sich Monate oder Jahre hinziehen. Der Kriegsschauplatz könnte sich auf Nato-Territorien ausweiten. Putin könnte chemische oder nukleare Waffen einsetzen. Doch während die Welt beim Anblick zerbombter Krankenhäuser und toter Zivilisten auf den Straßen entsetzt aufschreit, stellen sich Hedgefonds-Manager vor allem die Frage, ob sich der Einstieg lohnen könnte.

Das ist das kalte Kalkül bei notleidenden Schuldtiteln, die sonst niemand anfassen will. Oft gehen Rechtsstreitigkeiten mit ihnen einher, ebenso wie die Anschuldigung, die Investoren verhielten sich wie Leichenfledderer. Gelegentlich kommt es zu internationalen Zwischenfällen, wie zum Beispiel, als Elliott Management, ein Hedgefonds aus New York, während eines 15-jährigen Streits mit Argentinien ein Marineschiff beschlagnahmte.

In entwickelten Ländern geht es in solchen Situationen oft lediglich darum, die Kontrolle über (fast) bankrotte Unternehmen zu erlangen. In Schwellenländern ist das anders: Die Kreditnehmer sind grösstenteils Regierungen, und die Gläubiger müssen Kompromisse eingehen, die sich ergeben, wenn man von einer humanitären Krise profitiert oder mit einem Diktator verhandelt. Putins Krieg ist allerdings selbst für manche Hartgesottene eine rote Linie.

“Das ist mir einfach zu grotesk”, sagte Hans Humes, Gründer von Greylock Capital Management, in einem Interview, das er aus Caracas führte, wo er sich gerade mit der venezolanischen Vizepräsidentin getroffen hatte, die selbst Ziel von US-Sanktionen ist. Der Satz, dass man kaufen solle, wenn Blut auf den Strassen fließt, sei eine Allegorie, nicht wörtlich zu nehmen.

Deutscher Aktienkauf während Holocaust

Für Bill Browder, den Anti-Kreml-Aktivisten und ehemaligen Manager des einst grössten Hedgefonds in Russland, ist die Sache klar. “Das ist, als würde man sich fragen, ob man während des Holocaust deutsche Aktien kaufen sollte”, twitterte er am 6.März. Manche Investoren haben gar keine Wahl - viele Pensionsfonds haben die klare Anweisung gegeben, russische Vermögenswerte so schnell wie möglich zu verkaufen. Doch Russland verfügt über reichlich Barmittel und Einnahmequellen, selbst angesichts der Sanktionen. Putin könnte die Schulden des Landes weiter bedienen, nicht zuletzt in der Hoffnung, nach dem Krieg wieder Zugang zu ausländischem Kapital zu erhalten. Wer darauf nicht einsteigt, dem entgeht womöglich einiges.

Ausserdem hat Russland Zweifler bereits eines Besseren belehrt: Jay Newman von Elliott Management hatte vorausgesagt, dass die russische Regierung Mitte März fällige Zinsen nicht zahlen würde und seine Staatsanleihen wertlos wären. Doch Russland hat gezahlt. Natürlich gibt es Investoren, die keine Skrupel haben. Zwei Manager von Hedgefonds, die unter der Bedingung von Anonymität mit Bloomberg Businessweek sprachen, sagen, sie hätten auf Lukoil, Russlands zweitgrössten Ölproduzenten, gewettet. Der Handel mit russischen Unternehmensanleihen ist auf den höchsten Stand seit mindestens zwei Jahren geschnellt und erreichte bis Mitte März täglich mehr als 250 Millionen Dollar.

Wer wird der nächste Vampir-Tintenfisch?

Der Grund dafür: Anleihen wie die von Lukoil passen perfekt, um solche Spezialsituationen zu spielen. Sie lauten auf Dollar, unterliegen britischem Recht und sind zum Teil durch Vermögenswerte in Bulgarien, Italien oder den USA abgesichert. Wenn Lukoil in Verzug gerät, können die Gläubiger ihre Ansprüche vor einem internationalen Gericht geltend machen und theoretisch die Kontrolle über die Geschäfte außerhalb der Russischen Föderation erlangen. Vielleicht steigen die Anleihen aber auch, wenn alle anderen feststellen, dass sie zu billig sind.

“Wir haben so etwas schon zigmal gemacht”, sagt einer der Käufer. Ausserdem, so das Argument, unterminiere es die Bemühungen des Westens, Putin zu bestrafen, wenn Schuldner wie Lukoil ihren Verpflichtungen nicht nachkommen: Seine Verbündeten würden ohne Not belohnt und Russland könnte wertvolle Hartwährung behalten, die sonst zur Begleichung von Zinsen und Rückzaholungen ins Ausland fliessen müsste.

Ob es richtig oder falsch ist, auf Russland zu wetten, wollen diese Investoren aufgrund des Risikos von Negativ-Schlagzeilen nicht öffentlich diskutieren. Niemand will der nächste “Vampir Tintenfisch” sein, ein Spitzname, den der Rolling Stone der Goldman Sachs verpasste wegen ihrer Rolle in der globalen Finanzkrise. Solche Urteile hielten sich über Jahre. Für Humes von Greylock gibt es nur ein Szenario, in dem er russische Anleihen in Betracht ziehen würde: “Wenn jemand Putin ausschaltet, dann vielleicht.”

(Bloomberg)