Zu Beginn der Corona-Krise schien sich ein kritisches Deutschland-Bild in Europa zu festigen: Zum "Zuchtmeister"-Image aus der Finanzkrise kam der Eindruck mangelnder Solidarität mit anderen EU-Staaten hinzu. Doch sieben Monate nach dem Ausbruch der Pandemie in Europa hat sich das Bild auch aus Sicht der EU-Kommission verändert. Deutschland ist zu einer Art positivem Trendsetter zumindest in der EU geworden.

Andere Staaten kopieren deutsche Corona-Massnahmen. "Das 'modèle allemand' ist in Frankreich zurück", beobachtet die Frankreich-Expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Claire Demesmay.

Am auffälligsten ist dies beim deutschen Konzept der Kurzarbeit. Schon in der Finanzkrise hatte dies Aufmerksamkeit erregt, weil die Arbeitslosenzahl in Deutschland durch dieses Absicherungsinstrument für Beschäftigte und Firmen nicht in die Höhe schoss. In der Corona-Krise wurde das Modell in vielen Ländern kopiert - in Frankreich schon im März. Auf EU-Ebene wurde sogar ein milliardenschweres Sure-Programm beschlossen, das klammeren EU-Partnern ein Kurzarbeiter-Modell ermöglichen soll. Nur ist die Bundesregierung schon wieder einen Schritt weiter und hat die Regelung bis Ende 2021 verlängert. Das deutsche Wort "Kurzarbeit" hat nach Angaben eines hochrangigen Mitglieds der EU-Kommission mittlerweile den Einzug in den englischen Wortschatz geschafft wie früher "Kindergarten" oder "Angst".

Deutschland setzt den Standard

Weit weniger im Bewusstsein steht, dass Deutschland letztlich auch die entscheidende Messlatte für die Bewertung der Corona-Krise entwickelt hat - den Schwellenwert von 50 Neuinfektionen pro 100'000 Einwohnern über einen Zeitraum von sieben Tagen. In Deutschland wurde er von Bund und Ländern eingeführt, um eine Landkreis genaue Unterscheidung vornehmen zu können, wann verschärfte Corona-Massnahmen wieder greifen sollen. Aber jetzt zeigt sich, dass genau dieser Wert mittlerweile in ganz Europa darüber bestimmt, wo Reisewarnungen ausgesprochen und Risikogebiete erklärt werden.

Alle Länder, die etwa deutsche Touristen empfangen wollen, haben sich diesen Schwellenwert ebenfalls zu eigen gemacht - auch weil Deutschland die regionale Erhebung der Daten eingefordert hatte. Zwar führt dies dazu, dass Städte wie Brüssel, Paris oder die Kanarischen Inseln nun beim Überschreiten der Zahlen als Risikogebiete eingestuft werden und damit sofort mit weniger Touristen rechnen müssen.

"Aber die Festlegung regionaler Schwellenwerte hilft letztlich, gute Beziehungen zwischen Staaten zu wahren", beobachtet ein EU-Diplomat. Das für alle geltende "objektive Kriterium" lasse erst gar nicht den Verdacht aufkommen, dass Reisewarnungen nach politischer Sympathie oder Antipathie ausgesprochen würden.

Corona als Katalysator

Um so kurioser ist es allerdings, dass dieser Wert in Deutschland selbst in der Abstimmung zwischen Bund und Ländern eher zufällig zustande kam. Zunächst wollte das Kanzleramt einen schärferen Wert von 35 Neuinfektionen pro 100'000 Einwohner. Diese Zahl ergab sich aus Berechnungen über die personelle Ausstattung der lokalen Gesundheitsämter.

Denn das Kanzleramt wollte sicherstellen, dass die lokalen Ämter in der Lage sind Infektionsketten nachzuverfolgen. Aber den Ministerpräsidenten war dieser Wert zu niedrig. Deshalb setzten die Länderchefs - relativ willkürlich, wie ein an den Verhandlungen Beteiligter einräumt - den Wert auf 50 fest. Und ganz Europa kopiert ihn

Und noch bei einem dritten Punkt gilt Deutschland in der Corona-Debatte als vorbildhaft - beim Föderalismus. Denn so unzufrieden die Deutschen in Umfragen über die unterschiedlichen Landes-Regelungen sind: In zentralistischen Staaten wie Frankreich schwant den Verantwortlichen, dass die sehr unterschiedlichen Infektionsräume ein kleinteiligeres Denken erfordern.

"Seit dem Ende des Lockdowns gibt es in Frankreich nicht mehr eine einheitliche Regelung für das ganze Land", sagt DGAP-Expertin Demesmay. "Über das Krisenmanagement hinaus ist Corona ein Katalysator für Überlegungen, den Départements und Regionen mehr Verantwortung zu übertragen", fügt sie hinzu. Das Vorbild ist auch hier - Deutschland.

Zentralismus versus Machtaufteilung

Eine Vorbild- und Push-Funktion hat Deutschland aber auch bei den finanziellen Hilfen für die Wirtschaft in der Krise. "Die Bundesregierung bringt derzeit Geld in einer Höhe unter die Leute, als ob es kein Morgen gebe", amüsiert sich eine hohe Kommissionsvertreterin. Tatsächlich hat die Bundesregierung im Eiltempo Hilfsmassnahmen in dreistelliger Milliardenhöhe beschlossen, arbeitet jetzt bereits am Nachschlag - und hat damit andere Regierungen unter Zugzwang gesetzt. Zuletzt legte Frankreich diese Woche ein neues 100 Milliarden Euro schweres Paket auf.

Allerdings wird dies etwa in der Unions-Fraktion nicht nur positiv gesehen: Denn das deutsche Vorbild schuldenfinanzierter Staatshilfen gibt anderen, bereits hochverschuldeten EU-Staaten nun einen Vorwand, ebenfalls in die Vollen zu gehen. "Aber nicht alle denken an eine Rückzahlungsverpflichtung und Rückkehr zur Schuldenbremse wie wir", sagt ein CDU-Bundestagsabgeordneter. 

(Reuters)