cash.ch: Noch diese Woche werden neue Entscheide zu Corona-Lockerungen erwartet. Sie sind Wirtschaftswissenschaftlerin und ehemalige Vizepräsidentin der wissenschaftlichen Corona-Taskforce des Bundes und weiterhin im Beratergremium der Taskforce. Wie stehen Sie zur Lage der betroffenen Branchen?

Monika Bütler: Ich habe grosses Verständnis beispielsweise für die Gastronomie oder kleine Unternehmen. Die Leute wollen arbeiten, selbst wenn sie im Moment weniger verdienen. Das ist an sich ein gutes Zeichen - Unternehmerinnen und Unternehmer sind genau deshalb Unternehmerinnen und Unternehmer, weil sie etwas bewirken wollen. Zum Thema Lockerungen möchte ich mich derzeit nicht äussern.

In der Privatwirtschaft leiden unter den Coronamassnahmen vor allem der Tourismus, Restaurants, Fitnessstudios oder die ganze Event-Industrie. Müssen wir uns eingestehen, dass wenn sich einerseits ein Teil der Leute nicht an die Massnahmen hält und die Pandemie weitertreibt, andererseits der Staat sehr vorsichtig agiert, es unvermeidlicherweise wirtschaftlich Opfer geben muss?

Wir sind in einer extrem schwierigen Lage. Die Corona-Fallzahlen steigen, vor allem wegen der stärker ansteckenden Virusmutationen. Gleichzeitig ist die Bevölkerung müde von den Einschränkungen und sie verhält sich weniger vorsichtig als noch vor einem Jahr. Um aus der Krise zu kommen, müssen wir möglichst schnell mit dem Impfen gegen das Coronavirus vorankommen. Es gibt in der heutigen Situation kein besseres und günstigeres Konjunkturprogramm als die Impfung. So zeigen Prognosen für die USA eine schnelle wirtschaftliche Erholung, zu einem Teil dank des Hilfspakets der Regierung, hauptsächlich aber, weil das Land die Impfungen auf die Reihe bekommt und die Menschen und Firmen wieder Hoffnung schöpfen.

Der Bundesrat und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) beschreiben die epidemiologische Lage als «fragil». Trifft dies auch auf die konjunkturelle Lage zu? Können Unternehmen trotz ungewissen Impf-Fortschritts in der Schweiz schon relativ gut planen und haben wir ökonomisch wieder eine Perspektive?

Ja, wir haben eine Perspektive. Die konjunkturelle Lage ist deutlich robuster als die epidemiologische. Das liegt stark an der Exportindustrie inklusive vieler kleinerer und mittlerer Firmen, die sehr wettbewerbsfähig ist. Die Pharmabranche, die Industrie und auch der Dienstleistungssektor haben schon im vergangenen Frühling sehr schnell auf die epidemiologische Lage reagiert – viel schneller als die Staaten. So wurden Schutzmassnahmen lange vor den Anordnungen der Regierungen eingeführt. Die Schweiz konnte und kann in dieser Krise von ihrer liberalen Wirtschaftsordnung profitieren: Die Firmen passten sich schnell an, weil sie sich gewohnt waren, auf Schocks zu reagieren. Diesen Vorteil sollten wir nicht verspielen.

Als liberale Ökonomin lösten Sie im Dezember einiges an Diskussionen aus, weil Sie sich im Zusammenhang mit der Coronakrise kritisch zum Begriff der «Eigenverantwortung» äusserten. Würden Sie diesen allgemein neu oder anders definieren?

Der Begriff Eigenverantwortung hat in der Pandemie ein eigenartiges Eigenleben bekommen. Es war gar nicht mehr klar, was damit gemeint ist. Natürlich befürworte ich, dass jede und jeder Verantwortung für sich übernimmt. Unsere Gesellschaft funktioniert auch nur, wenn wir in einem gewissen Rahmen für andere Verantwortung übernehmen. Wenn sich in einer Pandemie jede Person 'eigenverantwortlich' selber schützt, genügt das zur Eindämmung des Virus allerdings nicht, weil sich gar nicht alle selber schützen können. Als Vergleich: Beim Rauchen würde niemand mehr auf eine eigenverantwortliche Lösung kommen. Weil eigenes Handeln, Rauchen zum Beispiel, externe Effekte auslöst. Dies deckt der Begriff Eigenverantwortung für mich zu wenig ab.

In der Schweiz als wirtschaftliche Grösse wird viel auf Eigenverantwortung gesetzt. Zumindest ist der Begriff im wirtschaftlichen Leben sehr präsent.

Ja, aber im Gegensatz zur Pandemie, wo die Menschen durch ihr Handeln andere direkt andere treffen können, geht es bei Eigenverantwortung in wirtschaftlichen Zusammenhängen primär darum, für sich selber Verantwortung zu übernehmen. Ich mag das Wort dennoch nicht, der Begriff Verantwortung genügt.

Die Frage stellt sich auch, weil im Bereich persönlicher Finanzen, der Vorsorge und des Sparens die Schweiz erheblich auf die und den Einzelnen setzt. Ist damit nicht eigentlich ganz gut gefahren?

Die Schweiz ist gut gefahren, in dem sie den Einzelnen viel Spielraum für eigenständiges Handeln einräumt. Damit habe ich nie ein Problem gehabt – im Gegenteil. Bei der Vorsorge stimmt die Aussage allerdings nicht, die Rolle des Staates ist ziemlich gross.

Sie sprechen damit an, dass es auch ein «Zwangsparen» gibt.

Interessanterweise haben wir Sozialversicherungen, weil die Eigenverantwortung an Grenzen kommt. So schützt mich das Obligatorium von beruflicher Vorsorge oder Krankenversicherung vor meinen eigenen Fehlern: Wenn ich zu wenig spare. Aber sie schützen gleichzeitig die Gesellschaft vor meinen Fehlern. Die Ursprünge der beruflichen Vorsorge bestehen darin, dass Patrons verhindern wollten, dass Angestellte im Alter ihren Kindern oder der Allgemeinheit zur Last fallen. Eine sehr paternalistische Idee zwar, die aber immer noch ihre Gültigkeit hat.

Die Bedeutung des persönlichen Sparens in der dritten Säule beispielsweise nimmt zu, vor allem auch für jene Generationen, die wegen tiefer Zinsen und demographischen Veränderungen aus den zwei ersten Säulen AHV und Pensionskasse künftig weniger Einkommen haben werden.  

Die ersten zwei Säulen zusammen haben über viele Jahre sehr grosszügige Renten ausgerichtet. Im internationalen Vergleich ist die Abdeckung durch die ersten zwei Säulen nach wie vor hoch, und mit den Ergänzungsleistungen haben wir ein wirksames Instrument gegen die Altersarmut. Aber es ist so: Der Mittelstand wird einen deutlich grösseren Teil der Vorsorge selber sparen müssen, um den gleichen Lebensstandard zu erhalten. Dies war vor zwanzig Jahren noch anders.   

In der Pandemiekrise spielt der Staat jetzt eine viel grössere Rolle im Alltag der Leute als vorher. Wird dies prägend sein, auch in einem traditionell eher staatskritischen Land wie der Schweiz?

Es kommt sehr darauf an, wie die nächsten Monate verlaufen werden. Sowohl die Behörden als auch die Ökonominnen und Ökonomen überlegen sich schon heute, was der beste Weg aus den Unterstützungsmassnahmen ist. Damit jene, die für sich selber sorgen können, dies auch wieder tun können. Bei den Firmen übernahm der Staat Rolle des Versicherers, weil das Risiko Pandemie gar nicht versicherbar ist. Es ist wichtig, dass sich der Staat auch wieder zurückzieht, um eine Strukturerhaltung zu vermeiden, welche die Erholung gefährden kann.

Im Zuge der zweiten Welle ab Oktober hat es grosse Diskussionen gegeben, ob Hilfen des Bundes und der Kantone angemessen genug seien und ob diese schnell genug ankommen würden. Erfolgt die staatliche Hilfe sinnvoll?

Im Grossen und Ganzen ja. Es liegt in der Natur einer Krise, dass nicht alles perfekt sein kann; in manchen Bereichen war die Abdeckung eher grosszügig, in anderen zu gering. Einige Probleme, die sich auftaten, so zum Beispiel die Versicherung von Selbständigen und vor allem Scheinselbständigen, hätten wir wohl auch ohne Pandemie einmal angehen müssen. Vor allem in der ersten Welle, und mit einiger Verzögerung auch in der zweiten Welle hat der Staat seine Rolle erfüllt. Die Flexibilität und Geschwindigkeit bei der Kurzarbeitsentschädigung war fantastisch.

Sie haben in den letzten Monaten auch den Schweizer Staatshaushalt gelobt, und namentlich auch Bundesrat Ueli Maurer, weil die Schweiz dank jahrelanger Sparbemühungen angesichts der wirtschaftlichen Belastungen am Pandemiebeginn vergleichsweise gut dastand. Aber wird man bei Staatsschulden und Steuern mit der Zeit umdenken?

Wenn es der Schweiz gelingt, die wirtschaftliche Aktivitäten wieder voll aufzunehmen und durch Innovationen zu Wachstum zurückzufinden, dann mache ich mir überhaupt keine Sorgen. Selbst im schlechteren Fall wird die Schweiz weniger Mittel brauchen, als in den vergangenen 15 oder 20 Jahre angespart worden sind.

Also kann sich die Schweiz eine moderat höhere Verschuldung leisten?

Wir müssen uns dies leisten, weil es auch darum geht, die Wirtschaft nicht abzuwürgen. Dies wäre teurer und würde letztlich zu höheren Schulden führen. Der spätere Schuldenabbau gelingt allerdings nur, wenn es dem Land wirtschaftlich gut geht. Die Verschuldung ist ja im Vergleich zu anderen Ländern immer noch tief. Dank der Exportindustrie und der grossen Anpassungsfähigkeit von Firmen und Menschen ist die Schweiz wirtschaftlich gut durch die Krise gekommen. Dies ist viel wichtiger als die Frage, ob wir zehn Milliarden Franken mehr oder weniger Schulden haben.

Befürchten Sie Steuererhöhungen wie in den USA, wo das 1,9-Billionen-Coronahilfspaket nun zu höheren Abgaben führen könnte?

Nein. Wir haben die Steuern ja auch nicht so gesenkt wie die USA, sondern mehr oder weniger konstant gehalten. Damit konnte die Verschuldung in den letzten Jahren abgebaut werden. Zu den Forderungen, Krisengewinner zu besteuern, und zur gegenläufigen Forderung, im Sinne der Wirtschaft Steuern zu senken, folgendes: Es ist gerade der Sinn eines progressiven Steuersystems, automatisch zu stabilisieren. Wer von der Krise profitiert hat, zahlt automatisch mehr Steuern, wer verloren hat, automatisch weniger. Dieser Ausgleich über die Zeit und zwischen den Marktteilnehmern ist der 'Charme' unseres Steuersystems. Das schlechteste, was man tun könnte, ist an der Steuerschraube zu drehen. Nach oben und nach unten.

Eine Veränderung beim Thema Staat und Wirtschaft, die vielleicht über die Pandemie hinausgeht, ist allerdings: Bei Abstimmungen, auch wirtschaftspolitischen, gibt es immer knappere Resultate. Wirtschaftsfreundliche, liberale Vorlagen schaffen es noch knapp. Ändert sich dies, hätte dies ja auch Folgen für Staat, Staatshaushalt oder allenfalls auch Steuern.

Ich sehe diese Veränderungen auch, mit etwas Bauchweh. Die liberale Seite hat eher verloren, das stimmt. Als sehr liberale Ökonomin bin ich allerdings auch manchmal erstaunt über bürgerliche Parteien. Ich habe den Eindruck, Partikularinteressen seien wichtiger, die Skepsis gegenüber der Wissenschaft grösser geworden. Die Frage nach den Entschädigungen wurde meiner Meinung viel zu kurzsichtig diskutiert und nicht in einem intertemporalen Zusammenhang, bei dem einschneidende Massnahmen wichtig sein können, um noch grössere Schäden abzuwenden.

Was wäre die richtige Message aus wirtschaftsliberaler Sicht?

Betroffene sollten unterstützt werden, solange die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie nötig sind. Danach muss wieder die Eigeninitiative im Vordergrund stehen – übrigens auch so ein Wort (lacht).

Sie sind eine der bekanntesten Ökonominnen der Schweiz, haben aber Anfang 2021 ihr Ordinariat an der Universität St. Gallen abgegeben. Was machen Sie heute?

Eigentlich habe ich eine Auszeit geplant, aber die ist noch nicht ganz so 'aus', wie ich sie mir vorgestellt habe. In St. Gallen habe ich nur noch eine Honorarprofessur - die anders als es der Name suggeriert, kein Honorar generiert -, ich betreue noch meine Doktorandinnen, mache kleinere Forschungsarbeiten und ab und zu eine Vorlesung. Ich bin heute selbstständig und engagiere mich weiterhin in Verwaltungsräten, Stiftungen und gemeinnützigen Projekten. Ich habe mich schon in meinen Studienzeiten immer so aufgestellt, dass ich mir eine Auszeit hätte leisten können. Nun freue ich mich, dass es doch noch klappt.