Im September scheiterte die Reform der Schweizer Altersvorsorge an der Urne. Wieder einmal, müsste man sagen. Denn schon die Senkung des Umwandlungssatzes hatte 2010 keine Chance beim Schweizer Stimmvolk. Vorsorgethemen sind auch deshalb von der Politik her schwer vermittelbar, weil das Schweizer System der drei Säulen komplex und schwer verständlich ist.
Umso radikaler ist Jérôme Cosandeys Vorschlag. Der Vorsorge-Experte der Denkfabrik Avenir Suisse fordert die freie Wahl der Pensionskasse für Privatpersonen. Diese Anregung ist nicht neu. Der Bundesrat hat sich schon vor elf Jahren gegen die PK-Wahlfreiheit ausgesprochen. Doch unser Vorsorgesystem widerspiegle die moderne Gesellschaft nicht mehr, sagt Cosandey im Interview. Zudem würde die Wahlfreiheit den Wettbewerb zwischen den Pensionskassen in die richtige Richtung treiben.
cash: Herr Cosandey, waren Sie für oder gegen die jüngste Rentenreform?
Jérôme Cosandey: Ich habe Nein gestimmt.
Warum?
Erstens stand der Ausbau der AHV völlig schief in der Landschaft. Zweitens hätten wir mit der Übergangsfrist von 20 Jahren mögliche Reformen für lange Zeit blockiert.
In einem Beitrag für Avenir Suisse fordern Sie nun unter anderem die Einführung einer freien Pensionskassenwahl für die Versicherten. Welche Idee steckt dahinter?
Wir leben in einer Gesellschaft, die immer stärker durch individualisierte Lebensläufe charakterisiert wird. Die Leute wechseln viel öfter als früher ihre Jobs, aber auch die Arbeitgeber sind viel mobiler geworden. Das zeigt sich in der zunehmenden Zahl an Firmengründungen, Konkursen und Fusionen. Man arbeitet vielleicht auch nicht mehr 100 Prozent, sondern ist bei mehreren Arbeitgebern angestellt oder gar teilweise selbstständig.
Und deshalb soll man seine Pensionskasse selbst wählen können?
Die Vorstellung, dass nur mein Arbeitgeber zu meiner Altersvorsorge schaut, ist nicht mehr zeitgemäss. Nach unserem Vorschlag sammelt man bei mehreren Arbeitgebern seine Beiträge für die berufliche Vorsorge und transferiert sie zur eigenen Pensionskasse. Hinzu kommt: Befindet sich die PK in Unterdeckung (wenn nicht alle Verpflichtungen durch das Vorsorgevermögen gedeckt sind, Anm. d. Red.) und wird ein Teil der Firma geschlossen, verliert man den Job und man muss Verluste in der PK realisieren. Mit der freien PK-Wahl könnte man immerhin das Kapital noch bei der alten Kasse behalten und die Sanierung abwarten.
Ist die Schweizer Bevölkerung überhaupt in der Lage, die 'richtige' Pensionskasse auszuwählen?
Das aktuelle System der Pensionskassen ist ein Business-to-Business-Modell und deshalb recht komplex. Mit der Wahlfreiheit müsste sich das System aber mehr an die Konsumenten richten. In meinem Vorschlag bleibt die Gestaltung des Sparprozesses im Handlungsspielraum der Sozialpartner. Neu könnten aber die Privatpersonen entscheiden, von wem und wie das Geld verwaltet werden soll. Das ist schon nicht mehr so kompliziert. Man müsste sich dann die Frage stellen: Will ich eher eine M-Budget-Pensionskasse oder eine Private-Banking-Lösung? Die Invalidenleistungen sollten hingegen weiterhin kollektiv beim Arbeitgeber versichert bleiben.
Ich behaupte: Hierzulande herrscht ein Wissensmangel in Sachen Altersvorsorge. Wäre das kein Problem?
Klar, ein besseres Finanz-Basiswissen ist immer erwünscht. Im internationalen Vergleich ist die Schweiz aber schon relativ weit. Ich hätte nichts dagegen, in der Grundschule Finanzwissen zu vermitteln. Die Frage ist aber, auf wessen Kosten? Der Lehrplan ist schon sehr voll.
Würde die freie PK-Wahl nicht dazu führen, dass die Kassen übermässige Risiken eingingen, um Kunden anzulocken?
Jein. Es gibt viele Versicherte, die eine riskante Strategie ablehnen. Das sieht man jetzt schon bei der Säule 3a. Die einen lassen das Geld auf dem Konto und verzichten praktisch auf Zins. Die anderen investieren in einen Anlagefonds. Wichtig ist: Man trägt das Risiko selbst, kann aber auch von den Chancen profitieren.
Die Verwaltungskosten der Pensionskassen sind schon heute sehr hoch und unterscheiden sich stark. Wie würden sich die Kosten mit Ihrem Vorschlag verändern?
Die freie Pensionskassenwahl würde die Verwaltungskosten vermutlich etwas erhöhen, weil der einzelne Kunde weniger Verhandlungsmacht besitzt. Handkehrum kann ich die Anlagestrategie mitbestimmen. Das ist auch etwas wert. Ein 25-Jähriger hat einen ganz anderen Anlagehorizont als ein 63-Jähriger.
Wie ist es überhaupt möglich, dass sich die Verwaltungskosten der Pensionskassen um mehrere hundert Franken pro Jahr unterscheiden?
Erstens wählen die Sozialpartner die Pensionskasse aus, aber es sind nicht ihre Gelder, die verwaltet werden. Das hat einen Einfluss auf die Preissensibilität. Zweitens bieten nicht alle Kassen dieselbe Produktpalette an. Drittens werden die Gelder mit unterschiedlichen Methoden und Produkten verwaltet. Entscheidend sind aber die Nettokosten. Die teuersten Kassen erwirtschaften nicht immer die besten Renditen.
Kritisiert wird auch die mangelnde Transparenz: Warum gibt es keinen einfachen, nachvollziehbaren Kosten-Rendite-Vergleich?
Vor der Strukturreform in der beruflichen Vorsorge 2011 war das ein Problem. Seither wurde die Definition der Vermögensverwaltungskosten vereinheitlicht. Ich schätze, mittlerweile sind 98 Prozent der PK-Gelder transparent angelegt. Für den Kassenvergleich viel problematischer ist aber der Deckungsgrad.
Warum?
Ein Deckungsgrad von 110 ist nicht automatisch besser als einer von 105. Viele Leute wissen nicht, dass der Deckungsgrad von gewissen Annahmen abhängt. Zum Beispiel vom technischen Zins, den eine PK selbst bestimmen kann. Ein halber Prozentpunkt Unterschied beim technischen Zins macht etwa 5 Prozent Deckungsgrad aus. Diesbezüglich muss man die Leute auch sensibilisieren.
Viele Unternehmen haben ja bereits die Wahl zwischen unterschiedlichen Pensionskassen. Nutzen Sie das zu ihren Gunsten?
Wenn man mit Geschäftsführern von Sammeleinrichtungen spricht, ist immer die Rede von grossem Konkurrenzdruck. Grosse Versicherer wie Helvetia, Bâloise oder Swiss Life haben Tausende von Vertragstypen mit ihren Kunden. Das zeigt, wie selektiv die Firmen meist sind. Jedes Unternehmen muss aber auch selbst entscheiden, wie grosszügig die eigene Vorsorge ausgestaltet sein soll.
Die freie Kassenwahl könnte zu einer Konsolidierung führen. Wie viele Pensionskassen braucht die Schweiz?
Die freie Wahl würde bestimmt zu einer Konsolidierung führen. Heute haben wir in der Schweiz etwa 1800 Pensionskassen und die 200 grössten vereinen etwa 85 Prozent des Vermögens. Wir haben ausgerechnet: Gäbe es nur noch 300 Pensionskassen, könnte man jährlich 400 Millionen Franken an Vermögensverwaltungskosten sparen. Derselbe Betrag würde nochmals an pauschalen Verwaltungskosten eingespart. Entscheidend wäre aber, ob die Kassen diese Einsparungen an die Kunden weitergeben.
Inwiefern würde die freie Wahl die aktuellen Probleme der Altersvorsorge lösen?
Die Problematik des zu hohen Umwandlungssatzes wird nicht gelöst. Aber es wäre eine Antwort auf gesellschaftliche Entwicklungen und auf die Gefahr der Teilliquidationen. Zudem würde es den Wettbewerb in die richtige Richtung antreiben. Heute überleben nicht die fittesten Pensionskassen, sondern jene, die mit den Regulierungen am besten klarkommen.
Rentenreformen haben es schwer an der Abstimmungsurne. Wie schätzen Sie die Chancen für Ihren Vorschlag ein?
Die letzte Vorsorge-Abstimmung hat gezeigt, dass die Politik grosse Mühe hat, eine Antwort auf das Problem der finanziellen Nachhaltigkeit zu geben. Deshalb wird sich die nächste Reform wohl wieder auf den Umwandlungssatz fokussieren. Aber wir leben in Bezug auf die Vorsorge immer noch in den 1970er Jahren. Obwohl die Modernisierung der Gesellschaft im aktuellen Vorsorgesystem zu wenig berücksichtigt wird, wird die freie PK-Wahl in der nächsten Legislatur kaum ein Thema sein. Da bleibe ich realistisch.
Jérôme Cosandey ist seit 2011 beim liberalen Thinktank Avenir Suisse tätig, wo er den Bereich Finanzierbare Sozialpolitik leitet. Er studierte Maschinenbau an der ETH Zürich mit anschliessender Promotion und arbeitete danach bei der Boston Consulting Group und bei der UBS. Zudem absolvierte Cosandey an der Universität Genf einen Master in internationaler Wirtschaftsgeschichte.