cash: Taavi Kotka, in Estland funktioniert fast alles online, vor allem auch Behördengänge. Estland führte auch die digitale, computerlesbare Identitätskarte ein, ohne dass die Leute dazu befragt wurden. 'Wir erzwangen es', sagten Sie einmal. Das tönt nicht nach rechtsstaatlichen Prinzipien.

Taavi Kotka: Wir kopierten das Konzept der digitalen Identitätskarten bei den Finnen. Der Unterschied ist: Bei uns funktioniert die digitale ID heute, bei den Finnen noch immer nicht. Warum? Bei den Finnen war die ID von Anfang an freiwillig, ähnlich wie bei Ihnen in der Schweiz. Man kann demnach eine digitale ID-Karte haben, muss aber nicht. Das funktioniert nicht. Bei uns war die digitale ID obligatorisch. Und das System funktioniert. 

Das Erzwingen einer digitalen ID wäre in der Schweiz schwierig.

Glauben Sie? Sie haben die Einführung der Reisepässe ja auch erzwungen. Bei uns lag die Priorität bei der Einführung der digitalen ID-Karte, Pässe kamen erst nachher. Aber die ID ist ja nur ein Beispiel. In Estland mussten wir der Bevölkerung diverse Sachen aufzwingen. Solche Zwänge zahlen sich aus. Die Leute erkennen die Vorteile einer Neuerung, der sie zu Beginn ablehnend gegenüber gestanden waren.

Können Sie ein anderes Beispiel nennen?

Wir zwangen die Lehrer, alles zu digitalisieren. Es gibt im Unterricht theoretisch kein Papier mehr. Zwei meiner Kinder sind schulpflichtig (holt sein Smartphone hervor). Schauen Sie, auf dieser App kann ich ihren Stundenplan sehen, welche Hausaufgaben sie bis morgen erledigen müssen und welche Noten sie haben. Ich kann die Leistungen meiner Kinder sogar mit derjenigen der Klassenkameraden vergleichen. Alles ist transparent. Die Eltern werden so etwas wie Ersatzlehrer. Ich kann mir vorstellen, dass das etwas schräg tönt für Sie. Aber machen Sie ruhig weiter so in der Schweiz.

Wie denn?

In der Schweiz wird noch immer über Dinge gerungen und diskutiert, welche nordische Staaten schon vor 20 Jahren eingeführt haben. Die Haltung und Positionen der Schweiz werden sich zum Nachteil wenden. Die Schweiz wird in Sachen Digitalisierung nicht bereit sein, und sie wird deshalb in Zukunft kaum Wettbewerbsvorteile mehr haben. Das ist natürlich gut für Länder wie Estland.

Estland musste nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 praktisch von Null beginnen. Da fällt es natürlich leichter, Neuerungen einzuführen als bestehende Strukturen abzuändern wie in der Schweiz.

(verdreht die Augen) Sie kaufen sich von Zeit zu Zeit zu Hause ja einen neuen Computer. Es ist also ganz normal, wenn man die Hardware auswechselt. Aber offenbar ist es nicht normal, Software und Systeme zu erneuern. In Estland haben wir die 'Keine-Altlasten-Politik'. Das heisst, die öffentlichen IT-Systeme müssen alle 13 Jahre von Grund auf erneuert werden. Das hat den Vorteil, dass man nicht in eine Komfortzone fällt. Man sollte dieselben Amortiationsprinzipien für Hardware und Software haben.

Bei der Hälfte der rund 1,3 Millionen ID-Karten Estlands wurden im letzten November Sicherheitslücken festgestellt. Dasselbe passierte schon vorher einmal. Ist das nicht beunruhigend?

Der Fall im letzten Jahr beruhte auf einem Fehler des deutschen Chipherstellers. Der Staat hat dann die Zertifikate von ID-Karten widerrufen, die Karten wurden ersetzt. Die Risiken waren bloss theoretischer Natur. Es ist nichts passiert, es fand kein Datendiebstahl statt, es war kein Cyber-Security-Problem. Und die Karten funktionierten vorübergehend analog weiter.

E-Government funktioniert nicht ohne Internet-Zugang. Hat Estland tatsächlich flächendeckendes Gratis-Internet?

Nein, das ist eine Legende. Wir hatten und haben zwar immer die höchsten Telekommunikationsstandards. Aber für unbeschränktes Internet zahlen die Leute in Estland etwa 15 Euro pro Monat.

In der Schweiz existieren Schätzungen, dass rund 30 Prozent der Beamtenstellen bei einer Umstellung auf E-Government den Job verlieren würden. Teilen Sie diese Sichtweise?

Ich verstehe solche Überlegungen nicht. Klar werden viele Dienstleistungen bei einer Digitalisierung verschwinden. Aber Beamte und Regierungsangestellte sind schlaue Leute. Sie werden sich neue Jobs und Positionen innerhalb des Verwaltungsapparates schaffen. In Estland, das wohl das digitalisierteste Regierungs- und Behördensystem der Welt hat, gibt es noch immer gleich viele Staatsangestellte. Das belegen statistische Zahlen auch aus Schweden, Dänemark oder Finnland. In anderen Worten: Die Qualität der staatlichen Dienstleistungen nimmt mit E-Government zu, aber die Kosten bleiben gleich hoch.

In der Schweiz will eine Gruppe von grossen Unternehmen mit der SwissID eine digitale Identität etablieren. Kann ein solches Konsortium von privaten Firmen zur Etablierung von E-Government führen?

Da bin ich skeptisch. Es besteht die Gefahr, dass es verschiedene Systeme geben wird, die sich nicht miteinander verbinden lassen. Dabei gehen die grossen Vorteile einer digitalisierten Gesellschaft verloren. Ich betrachte solche Fragen aus der Sicht eines Ingenieurs. Man muss sich bei der Schaffung einer digitalisierten Gesellschaft klare Ziele setzen. Das heisst, dass man zum Beispiel in fünf Jahren bestimmte Standards erreicht haben will. Und diese Ziele sollten nicht in Frage gestellt werden. Ein Beispiel: Es steht zur Debatte, ob eine Brücke über einen Fluss gebaut werden soll. Das sind Themen und Diskussionen der Politik. Aber sobald der Entscheid für eine Brücke gefällt ist, ist es kein politisches Thema mehr, sondern eines von Ingenieuren. Dann dürfen Sie nicht mehr darüber diskutieren, welche Materialien zur Schaffung der Brücke verwendet werden sollen.

Verstehen Sie mögliche Bedenken wegen Datenschutzes, wenn Privatfirmen eine SwissID verantworten?

Der digitale Zertifizierungsprozess in Estland ist zu hundert Prozent in privater Hand. Und was die anderen Datenschutzbedenken wegen der Digitalisierung betrifft: Ein Fall wie derjenige von Michael Schuhmacher, dessen Patientenakte offensichtlich abfotografiert wurde, wäre in Estland nicht möglich.

Weshalb?

Aufgrund des digitalisierten Gesundsheitssytems in Estland hat jeder Arzt im Land jederzeit Zugriff auf alle Patientenakten. Aus medizinischen Gründen macht das Sinn. Aber der Arzt muss einen triftigen Grund und die Einwilligung des Patienten haben, eine solche Akte am Computer öffnen zu dürfen. Und der Arzt wird dabei natürlich registriert. Tut der dies ohne Grund, wandert er ins Gefängnis.

Die 'University of Michigan' stellte in einer Studie fest, dass das System der elektronischen Stimmabgabe, also das E-Voting, in Estland limitiert und nicht verlässlich sei. Was sagen Sie dazu?

Sie müssen zunächst einmal wissen, wer diese Studie finanziert hat. Wahrscheinlich war das Putin… Ich habe die Studienverfasser einige Male in mein Büro nach Estland eingeladen, um ihnen unser System zu erklären. Es erschien niemand. Wir haben sicher einige Punkte verbessert und effizienter gemacht. Aber fundamentale Fehler lagen dem System nicht zugrunde. Auch heute nicht.

Estland offeriert vor allem ausländischen Investoren eine digitale Staatsbürgerschaft. In wenigen Minuten sollen sie Unternehmen gründen können. Das Ziel: 10 Millionen 'Satellitenbürger' bis 2025. Wie weit sind Sie?

Bis Jahresende werden es 50'000 sein. Das ist natürlich weit weg von 10 Millionen. Im Vergleich zur erwerbstätigen Bevölkerung von 650'000 Leuten in Estland ist das jedoch viel, vor allem weil es im Zeitraum von drei Jahren geschah. Wir sind bereits jetzt Gewinner im Kampf um die virtuellen Talente.  Die Zahl von 10 Millionen war bloss eine Vision.

Aus welchen Staaten kommen die meisten Bewerbungen für digitale Staatsbürgerschaften?

Raten Sie mal. Sie werden es kaum glauben.

Russland?

In den Top Ten.

Deutschland?

Ja. Ein Land des Euroraumes. Ich erkläre mir es damit, dass wir weniger Bürokratie haben und dass wir billiger sind.

Von Ihnen stammt ja auch die Vision der estnischen 'Datenkonsulate': Eine digitale Abkoppelung des Staates von seinem territorialen Gebiet mittels Backup-Servern im Ausland mit allen Datensätzen der estnischen Bürger. Hintergrund war der Cyber-Angriff 2007 auf Estland mutmasslich durch Russland…

…nicht 'mutmasslich'. Es ist ziemlich gut belegt, dass die Angriffe aus Russland kamen.

Aber die Datenkonsulate sind ein Verteidigungskonzept.

Grundsätzlich geht es hier um digitale Kontinuität. Kein Papier, keine Archive. Aber schauen Sie: In der Schweiz kann man sich kaum vorstellen, dass das Land einmal besetzt wird. Estland dagegen war über Jahrhunderte besetzt. Deshalb stellt man sich in Estland nicht die Frage, ob eine Besetzung durch eine Fremdmacht passiert, sondern wann. Obwohl das Land Nato-Mitglied ist. Wir fragten uns daher auch: Wie kann ein Land in einem Besetzungsfall überleben? Dann kam die Idee mit den Datenkonsulaten. Etwa die Hälfte in diesem Prozess haben wir hinter uns.

Das Ende des physischen Staates?

Nein, der wird bestehen bleiben. Jemand muss  für 'Law and order' verantwortlich sein. Aber es wird einen digitalen Ableger des Staates geben. Und der wird sehr mächtig sein.

Auch andere Datengebilde werden immer mächtiger: Unternehmen wie Google oder Facebook. Was halten Sie von dieser Entwicklung?

Wer weiss besser Bescheid über Ihre Gesundheit? Google oder Ihr Arzt? Ganz offensichtlich trauen die Leute in der Schweiz Google und Facebook mehr als ihrem Hausarzt, wenn man bedenkt, wie viele Daten den Unternehmen zur Verfügung gestellt werden. Das ist in meinen Augen eher unklug.

Das Interview mit Taavi Kotka fand am Rande eines Kundenanlasses der Zürcher IT-Security-Firma Avantec statt, wo Kotka eine Rede hielt.

Im Video-Interview mit cash äussert sich Taavi Kotka auch zu Plänen von 'Estcoin' und zu Kryptowährungen allgemein.

Der studierte Ingenieur Taavi Kotka (39) war von 2013 bis Anfang 2017 Chief Information Officer (CIO) der Regierung Estlands und damit verantwortlich für die Digitalisierung des baltischen Staates. Davor war er Chef der grössten Softwareentwicklers in Estland. 2014 wurde Kotka als Europäischer CIO des Jahres ausgezeichnet. Er ist Sonderberater des Vizepräsidenten der Europäischen Kommission. Nach einem kurzen Abstecher bei Plumbr führt Kotka heute eine eigene Firma. Kotka ist verheiratet und hat drei Kinder. Am Samstag hat er eine eigene Show am estnischen Radio.