cash.ch: Der Stimmungsumschwung in Deutschland gegen Russland war im europäischen Kontext nach Kriegsbeginn in der Ukraine ziemlich markant. Hat Sie das überrascht?

Phillip Vorndran: Überraschend war, dass Wladimir Putin die russischen Truppen in die Ukraine einmarschieren liess und das nun brutal durchzieht. Grünes Licht dürfte er am Ende aus Peking bekommen haben. Hätte der chinesische Präsident Xi Jinping der Invasion nicht zugestimmt, dann hätte Putin den Krieg wahrscheinlich nicht gewagt. Grundsätzlich glaube ich, dass die Deutschen gegenüber dem russischen Volk gegenüber immer freundlich und konstruktiv waren und sind. Putin dagegen ist, spätestens seit der Annektierung der Krim, zunehmend zum Problem geworden. Das politische Berlin war da sicher diplomatischer in der Einstellung und weniger klar in den Aussagen als die Wahrnehmung in der Bevölkerung. 

Sie vermuten, China habe die Ukraine-Invasion quasi abgesegnet. Steuern wir damit noch mehr auf eine wirtschaftliche und politische Zweiteilung zwischen den westlichen, offenen Volkswirtschaften und quasi einem neuen Ostblock mit China im Lead zu?

Ich erwähne seit Jahren den Satz «neuer eiserner Vorhang mit ökonomischer Relevanz». Wir stecken mitten in dieser Polarisierung. Der Handels- oder Wirtschaftskrieg zwischen China und den USA war für uns nie etwas anderes als ein Wettstreit um den Hegemonialstatus. Der Ausdruck «Eiserner Vorhang 2.0» definiert unsere Erwartungshaltung. Das wird sich weiter zuspitzen und deutet nicht auf Entspannung hin. 

Was bedeutet das für Europa?

Es ist eine schlechte Nachricht für unsere Volkswirtschaften, die auf einen durchlässigen, globalen Handel angewiesen sind. Wenn man sich als Unternehmen oder Volkswirtschaft für eine Seite entscheiden muss, bedeutet dies auch ein massives Zurückbuchstabieren von skalierbarem Geschäft. Es ist eine viel schlechtere Nachricht für Europa, denn die Volkswirtschaften der USA und China sind viel geschlossener. Unsere Politik müsste viel vorausschauender handeln, um diese Entwicklung abzufedern. Aber wir sind weitgehend untätig. Wir überlassen das Feld weitgehend den Chinesen und Amerikanern. Es wird für die Schweiz und Europa viel schwieriger.

Was müsste Europa in die Wege leiten?

Europa muss versuchen, als ehrlicher und ernstzunehmender Schiedsrichter aufzutreten. Dafür muss man sich aber erst mal einig werden, für was man selbst steht. Und das ist die Crux der europäischen Idee. Man kann sehr viel vom geeinten Europa ‘schwafeln’ in irgendwelchen Sonntagsreden. Wenn es aber zum Schwur kommt, dann driften die Interessenlagen unglaublich auseinander. Das jüngste Beispiel ist das Thema der Energieversorgung. Die Atomenergie ist in Frankreich, Polen oder Tschechien eine Selbstverständlichkeit, in Deutschland oder Österreich ist dies indes ein «No Go». Ähnliches ist in der Aussen- und Handelspolitik zu beobachten. 

Müssen sich europäische Firmen darauf vorbereiten, dass sie sich aus China zurückziehen, ähnlich wie nun in Russland?

Schauen Sie: Wir sind mit den Unternehmen in unserem globalen Aktienportfolio, das zwischen 40 bis 50 Titel umfasst, in sehr engem Austausch. Wir stellen den Verantwortlichen dieser Unternehmen immer Fragen wie: Wie weit seid Ihr mit Überlegungen zu solchen Veränderungen? Plant Ihr entsprechende Anpassungen von Strukturen? Wir beobachten in den letzten Monaten Entwicklungen, welche durchaus in diese Richtung gehen. Zum Beispiel bei der Gründung von Spin-Offs, damit voneinander abhängige Geschäftsmodelle getrennt werden können. Ich erwähne Volkswagen als mögliches Beispiel. Der Mutterkonzern VW ist beinahe schon ein chinesisches Unternehmen. Der VW-Teil Porsche hingegen hängt eher am US-Markt. Es würde ökonomisch natürlich überhaupt keinen Sinn machen, VW und Porsche auseinanderzureissen. Unter neuen Gegebenheiten wären solche Überlegungen aber plötzlich doch sinnvoll. Wir merken durchaus, dass Unternehmen die neuen Gegebenheiten bei ihren strategischen Planungen einbeziehen. Bei der Kommunikation nach aussen sind sie logischerweise jedoch sehr zurückhaltend. 

Investitionen in Länder in China werden also zunehmend schwieriger, auch unter dem Aspekt von ESG?

Das Wertegerüst von ESG und Nachhaltigkeit stimmt hinten und vorne nicht überein mit Investitionen in einem Land wie China. Oder anders gesagt: Wer unter ESG nicht bloss den Klimaschutz versteht und zum Beispiel auch Menschenrechte und Corporate Governance miteinbezieht, der muss heute schon Bauchschmerzen haben bei jedem Investment, nicht bloss in Russland. Deswegen haben wir auch unser Engagement in China in den vergangenen Jahren zurückgefahren.

Beobachter sehen in Europa in den nächsten Monaten in eine Rezession schlittern. Sehen Sie das auch so?

Für die nächsten ein oder zwei Quartale ist das für Europa kein unrealistisches Szenario. Die steigenden Kosten für Energie werden die Budgets der Konsumenten deutlich belasten. Ich habe mir vor zwei Wochen einmal die Mühe gemacht, meinen Gasvertrag anzuschauen, den ich im Dezember abgeschlossen hatte. Damals kam ich auf eine Summe von 176 Euro Kosten pro Monat. Vor zwei Wochen lag der gleiche Kilowatt-Stunden-Verbrauch bei 546 Euro. Das sind fast 400 Euro pro Monat mehr. Solche Zahlen zeigen: Die steigenden Energiepreise werden ganz sicher Auswirkungen auf das Konsumverhalten haben. Das wird natürlich auch einen Zweitrunden-Effekt auslösen bei den Löhnen. Die Notenbanken können sich gar nicht vorstellen, was da in Sachen Inflation alles auf sie zukommt.

Die Notenbanken haben einen noch schwierigeren Job: Nachdem sie die Inflationsgefahren lange Zeit negiert hatten, müssen sie nun schauen, dass sie mit Zinserhöhungen die Konjunktur nicht übermässig abwürgen…

Das ist jetzt die Schweizer Brille, die Sie aufhaben. Wir haben in der Eurozone zusätzlich das Problem der gigantischen Schulden. Deswegen wurde die Inflation so lange negiert. Der Spielraum der EZB ist extrem begrenzt. Die Inflationsprognosen der EZB wären nur dann realistisch, wenn wir eine Megarezession bekämen. Gemessen an der von uns erwarteten Wirtschaftsentwicklung sind die Inflationsprognosen dagegen schlicht zu tief. Die US-Notenbank muss sich eher Sorgen machen um die Kapitalmärkte. Denn der Konsum in den USA wird dann kollabieren, wenn es an den Immobilien- und Aktienmärkten nicht gut läuft. Die Schweizerische Nationalbank schliesslich ist über die Währungskomponente gefangen. Eigentlich macht sie sehr viel richtig, weil sie ihre Devisenreserven in hohem Mass in Realwerte angelegt hat. Dies im Gegensatz zu anderen Notenbanken mit ihren umfangreichen Obligationen-Investments.

Die Notenbanken sind also alle irgendwie gefangen.

Ja, und das hat zur Folge, dass wir in Zukunft mit stark negativen Realzinsen konfrontiert sein werden. Für diejenigen Investoren, die ihre Anlagen vor allen in Nominalwerte tätigen, ist das natürlich eine schaurige Perspektive.

Wie sollte ein Portfolio für die nächsten Jahre aussehen?

Es besteht seit Jahren eine negative Realverzinsung, dazu kommen Kosten der Negativzinsen der Banken für die Kunden. Da erreichen wir Grössenordnungen, die langsam schmerzen. Daher ist für uns die Asset Allokation seit rund drei Jahren klar: Ein maximal hoher Anteil des Portfolios in Realwerte anlegen. Das reicht von der selbstgenutzten Immobilie bis zu erstklassigen Unternehmen. Dieser Anteil sollte bis 80 Prozent betragen. Dann jeweils 10 Prozent Gold und Cash. Voraussetzung ist natürlich ein Anlagehorizont von mindestens 7 bis 10 Jahren.

Mit Blick auf das Aktienportfolio: Welche Umschichtungen sollte man vornehmen? Sollen die riskanten Tech-Aktien raus?

Qualität hat immer gezählt, und sie wird noch mehr zählen, egal was passieren wird. Viele dieser qualitativ hoch stehenden Unternehmen werden vielleicht noch ein, zwei Quartale ‘durchhusten’ müssen, aber sie werden wieder aufstehen. Mit dieser Ausrichtung kann man relativ entspannt eine hohe Aktienquote durchhalten. Qualität schliesst den Tech-Bereich aber nicht aus. Auch dort gibt es – wie in der Nahrungsmittelindustrie mit beispielsweise Nestlé – ebenfalls Unternehmen mit Geschäftsmodellen, die hochgradig prognostizierbar und anständig bewertet sind.

Sie haben erwähnt, dass man noch ein, zwei Quartale durchhusten müsse bei einigen Aktien. Schätzen Sie so generell den Börsenverlauf ein?

Wir machten im Januar klar, dass der MSCI World mit einer Performance von rund 30 Prozent im Jahr 2021 bereits eine durchschnittliche Performance von 5 Jahren erreicht hatte. Es ist nun mehr als normal, dass sich dieser Index nun ein bis zwei Jahre Ruhe gönnen kann. Man sollte sich also nicht wundern, wenn sich der Index in den nächsten zwölf bis 24 Monaten mit einer gewissen Volatilität seitwärts bewegt. Unsere Aussage vom Januar bleibt bestehen, Ukraine-Krieg hin oder her. Natürlich kann man nicht ausschliessen, dass die Aktienmärkte nochmals 20 Prozent tauchen können. Aber man kann auch nicht ausschliessen, dass es in der Ukraine zu ernsthaften Friedensverhandlungen kommt mit entsprechenden positiven Folgen für die Börse. Aber auf solche Spekulationen lassen wir uns nicht ein. Wir suchen einfach Unternehmen mit einem robusten Geschäftsmodell. Die börsenkotierte Firma S&P Global zum Beispiel, die Finanzinformationen verkauft, kann ihre Preise jedes Jahr erhöhen. Das sind Unternehmen, auf welche viele Leute nicht verzichten können. 

Haben Sie viele Anrufe nervöser Kunden derzeit?

Nein. Unsere Kunden wissen, dass man die Volatilität im Markt akzeptieren muss für langfristig höheres Renditepotenzial. Interessant ist eher, dass die nervösen Anleger derzeit von der Anleihen-Seite kommen. Sie haben in diesem Jahr viel mehr verloren als Aktienanleger. Der MSCI World hat seit Jahresbeginn rund 2,5 Prozent nachgegeben. Ein vergleichbarer Bond-Index liegt bei minus 4 Prozent. Der erhoffte Diversifikationseffekt für das Portfolio war einer der grossen Gründe in der Vergangenheit, um Obligationen zu kaufen. Dieser Effekt funktioniert nicht mehr.

Philipp Vorndran ist seit 2009 Kapitalmarktstratege beim Kölner Vermögensverwalter Flossbach von Storch. Von 1997 bis 2008 war er bei der Credit Suisse tätig, unter anderem als globaler Chefstratege im Asset Management sowie als CEO der Credit Suisse Asset Management Deutschland. Zuvor war Vorndran bei der Bank Julius Bär in Frankfurt und Zürich beschäftigt, wo er den Bereich Derivative von Julius Bär Asset Management leitete. Vorndran absolvierte ein Studium der Betriebswirtschaft an der Universität Würzburg und war danach mehrere Jahre lang wissenschaftlicher Mitarbeiter.