Letzten Freitag vermeldete das Pekinger Statistikamt, dass Chinas Wirtschaft im zweiten Quartal des Jahres um 6,7 Prozent gewachsen ist. Es ist das gleiche Wachstum wie bereits im Quartal davor. Man ist damit im Soll, denn Chinas Premier Li Keqiang hat für dieses Jahr ein Wachstum von 6,5 bis 7,0 Prozent zum Ziel gesetzt. In den kommenden fünf Jahren sollen es dann jeweils mindestens 6,5 Prozent sein.
Was nach einer ordentlichen Wirtschaftsentwicklung klingt, wird von vielen Beobachtern scharf kritisiert: "China fährt mit hohem Tempo in eine Wand", sagt etwa Christa Janjic-Marti, Ökonomin und Schwellenländer-Expertin von Wellershoff & Partners, auf cash-Anfrage.
Die Unzufriedenheit über Chinas aktuellen Zustand hat zwei Hauptgründe: Zum einen scheint die Art und Weise, wie die Regierung Wirtschaftswachstum generiert, nicht nachhaltig zu sein. Zum anderen ist es sehr fraglich, ob die angegebenen Wachstumszahlen überhaupt wahr sind.
Staat bestimmt Tempo der Wirtschaft durch Kredite
Doch der Reihe nach: Chinas Wachstum wird ziemlich eng von der Zentralregierung gesteuert. Die meisten Banken des Landes sind Staatsbanken. Will die Regierung die Wirtschaft unterstützen, so sagt sie ihren Finanzinstituten: "Geht raus, gebt Kredite". Im umgekehrten Fall, wenn eine Überhitzung droht, werden die Banken kurzerhand zurückgepfiffen.
Das kreditfinanzierte Wachstum hat China einen hohen Schuldenberg beschert. Im ersten Halbjahr 2015 versuchte die Regierung erstmals die Schulden etwas zu reduzieren, indem die Kredite zurückgefahren wurden. Die Folge war ein nicht zuletzt an den weltweiten Aktienmärkten sehr turbulenter Sommer: "Nach dem Juli-Crash und der misslungenen Abwertung im August 2015 bekam die Regierung kalte Füsse und drehte den Kredithahn wieder massiv auf", so Janjic-Marti. Daraufhin hat sich die Wirtschaft im ersten Halbjahr 2016 tatsächlich wieder etwas stabilisiert.
Und was macht man in Peking derzeit? Laut Zahlen vom Freitag weitete sich die Kreditvergabe allein im Juni um 104 Milliarden Yuan oder umgerechnet 20 Milliarden Franken im Vergleich zum Vorjahreszeitraum aus. Man stützt also die Wirtschaft, indem das Land seinen Schuldenberg weiter erhöht.
Das «China-Doping» verliert an Wirkung
"China dopt die Wirtschaft mit Kredit", sagt Janjic-Marti dazu. Der Schuldenberg werde immer höher, gleichzeitig der Effekt durch die Kreditvergabe aber auch immer kleiner. Man werfe gutes Geld schlechten Firmen nach.
Zahlen untermauern diese These: Das aktuelle Kreditwachstum ist vergleichbar mit demjenigen von 2009, nur wuchs die Wirtschaft damals mit über 10 Prozent, heute sind es weniger als 7 Prozent. Mit der gleichen Politik kann das Land immer weniger Wachstum erzeugen.
Wohin führt diese Entwicklung? Ein paar Jahre könne das vielleicht noch gut gehen, meint Janjic-Marti. Doch irgendwann werde man im eigenen Schuldenberg ertrinken. Und die Auswirkungen eines China-Crashes würde die ganze Weltwirtschaft zu spüren bekommen, stellt die China-Nachfrage doch ein wichtiger globaler Wachstumstreiber dar.
Aber nicht alle teilen diese düsteren Zukunftsaussichten: "China managt den Trend vom Investitionsboom hin zu mehr privatem Konsum ziemlich gut", sagt Michael Bolliger, Schwellenländer-Experte von der UBS, zu cash. Er sieht zwar eine strukturelle Wachstumsverlangsamung in China als unumgänglich an, ist gleichzeitig aber überzeugt, dass eine harte Landung vermieden werden könne. Nicht zuletzt wegen der gut dosierten Wirtschaftspolitik des Landes: "China wendet fiskalpolitische Instrumente zunehmend selektiv an, etwa wenn ein starkes Abkühlen verhindert werden soll."
Wie viel Wachstum soll es denn sein?
Es wird nicht nur ein Fragezeichen gesetzt hinter die Art, wie China Wachstum generiert, sondern auch hinter die Glaubwürdigkeit der offiziell ausgewiesenen Wachstumszahlen. Immer wieder hört man, China fälsche die Zahlen. Während viele dies wegen mangelnder Beweise nur hinter vorgehaltener Hand auszusprechen wagen, nahm der Ökonom Robert Wescott Anfang Jahr an einem Anlass in Zürich klar Stellung: "Chinas Wachstumszahlen stimmen niemals", meinte damals der Ex-Berater von Bill Clinton, der in der Vergangenheit mehrmals mit chinesischen Behörden in Kontakt war.
Der Grund für die massive Abweichung sei gemäss Wescott die völlig andere Auffassung von Statistiken in China. Dort würden nicht Daten gesammelt, um dann das Wachstum zu ermitteln, sondern umgekehrt würde ein Wachstum vorgegeben, für welches dann die "richtigen" Daten genommen werden müssten, um auf das gewünschte Wachstum zu kommen. Die aktuellen Zahlen vom zweiten Quartal nähren diese These weiter.
Aber wie stark wächst China wirklich? Das Beratungsunternehmen Wellershoff & Partners hat detaillierte Berechnungen durchgeführt, gestützt auf die vielen vorhandenen Produktions- und Verkaufsdaten der einzelnen Industrien Chinas. Was auffällt: Stellt man die offiziellen Zahlen von China der Schätzung von Wellershoff & Partners gegenüber (siehe Darstellung unten), so scheinen die beiden Werte vor allem seit 2015 voneinander abzuweichen.
Für das zweite Quartal 2016 zeigt die W&P-BIP-Statistik ein Wirtschaftswachstum von 5,9 Prozent - das sind ganze 0,8 Prozent weniger als der offiziell ausgewiesene Wert. Bis 2020 erwartet Wellershoff & Partners einen Rückgang des Trendwachstums in China auf vier Prozent - sofern das Land bis dann nicht in eine Finanzkrise schlittert. Dann wäre das Wachstum nochmals bedeutend schwächer.
China: Offizielles BIP und Schätzung von Wellershoff & Partners
Quelle: Thomson Reuters Datastream, Wellershoff & Partners