cash.ch: Die US-Notenbank Fed hat am Mittwochabend die Leitzinsen nochmals um 75 Basispunkte erhöht. Warum reagierten die Märkte mit Kursgewinnen auf diesen Schritt?
Mathieu Racheter: Die Zinsanhebung war schon eingepreist. Die Märkte haben positiv reagiert, da zuvor darüber spekuliert wurde, dass die Fed wegen der hohen Inflationsdaten im Juni die Zinsen sogar um 100 Basispunkte erhöhen könnte. Zudem sagte Fed-Chef Powell, dass in den Konjunkturdaten erste Bremsspuren ersichtlich und damit die nächsten Zinsschritte nicht wirklich gegeben seien. Das weitere Vorgehen macht er von den kommenden Daten zur Inflation und Konjunktur abhängig.
Inwiefern hat sich die Ausgangslage für die Aktienmärkte verändert?
Für den Gesamtmarkt hat sich die Ausgangslage nicht gross verändert. Die Fed ist immer noch auf die Inflation fokussiert. Diese ist zwar rückläufig, befindet sich aber auf einem erhöhten Niveau. Für die einzelnen Marktsegmente spielt es aber schon eine Rolle, da der Höhepunkt bei der Inflation und bei der restriktiven Haltung der Fed durchschritten ist. Dies eröffnet ein taktisches Fenster für Wachstums-Aktien.
Teilen Sie die Marktmeinung, dass in den kommenden Fed-Sitzungen das Tempo bei den Zinserhöhungen gedrosselt wird?
Das Frontloading ist beendet. Unsere Ökonomen erwarten für den September eine Zinserhöhung von 50 Basispunkten. Und mit einer Anhebung von 25 Basispunkten im November sollte bis auf weiteres der letzte Zinsschritt erfolgen.
Nächstes Jahr wird die Fed keinen weiteren Zinsschritt mehr vornehmen?
Genau. Die Inflationsdynamik wird sich verlangsamen. Damit kann der Fokus der Fed im nächsten Jahr wieder breiter gestaltet werden und nicht nur auf die Inflation konzentriert sein. Mit anderen Worten: Das Wirtschaftswachstum kann wieder besser berücksichtigt werden.
Warum sehen Sie die Inflation so stark zurückkommen?
Wir sehen bereits jetzt, wie gewisse Probleme der Lieferketten sich beruhigen, während die Nachfrage etwas nachlässt. Dies bedeutet weniger Preisdruck. Zudem haben wir eine negative Sicht auf die weitere Entwicklung der Rohstoffpreise, die ein grosser Treiber des Inflationsanstiegs waren. In den USA erwarten wir im vierten Quartal 2023 eine Inflation von 3 Prozent, in der Eurozone eine von 2 Prozent. Die Fed wird eine Inflation von über 2 Prozent akzeptieren, solange diese nicht zwischen 4 und 5 Prozent zu liegen kommt.
Ist diese Entwicklung bei der Inflation hauptsächlich dem Basiseffekt bei den Rohstoffen geschuldet?
Ja. Der prognostizierte Inflationsrückgang ist mehrheitlich auf den Basiseffekt zurückzuführen, da die grossen Anstiege bei den Rohstoffpreisen hinter uns liegen. Zudem nimmt der konjunkturelle Gegenwind zu, was sich negativ auf die Rohstoffpreise auswirken wird. Deshalb ist unsere Sicht auf Aktien des Öl- und Materialsektors in der kurzen Frist negativ. Diese boten bis anhin die beste Absicherung gegen die Inflation und viele Investoren sind dort noch immer investiert. In einer Rezession sind Aktien aus dem Rohstoffsektor aber diejenigen, die man nicht im Portfolio haben will.
Für Investorinnen und Investoren sind schlussendlich aber die Realzinsen relevant…
Die Realzinsen hatten historisch gesehen immer einen Einfluss auf die Bewertungen von Aktien. Steigende Realzinsen bedeuten höhere Opportunitätskosten, da Anleihen wieder attraktiver werden. Die Korrelation zwischen den Realzinsen und dem S&P 500 und anderen Indizes hat in den letzten zwei Jahren jedoch zugenommen. Die ganze negative Neubewertung von Aktien, die man seit Anfang Jahr beobachten konnte, ist ausschliesslich durch den Anstieg der Realzinsen erklärbar. Es besteht eine Korrelation von fast 1. Das gab es in der Vergangenheit noch nie in diesem Ausmass.
Warum hat der Einfluss der Realzinsen auf den Aktienmarkt dermassen zugenommen?
Die Aktienmärkte reagieren insbesondere in den USA so stark auf Realzinsen, da Wachstumsunternehmen, bei denen einen Grossteil der erwarteten Cashflows in der ferneren Zukunft anfallen, dort so stark vertreten sind.
Was spricht dagegen, dass die Realzinsen nicht noch weiter steigen und die Aktienmärkte unter Druck setzen?
Der grosse Anstieg bei den Realzinsen liegt hinter uns, weil die kommenden Zinsschritte eingepreist sind und die Rezessionsrisiken tendenziell zugenommen haben. In einem solchen Umfeld besteht ein geringes Aufwärtsrisiko, was dementsprechend einen Einfluss auf die Bewertung des Aktienmarkts hat. Im ersten Halbjahr dominierten steigende Realzinsen die negative Neubewertung von Aktien. Diese Geschichte ist vorbei. Der Fokus liegt im zweiten Halbjahr auf dem Gewinnausblick der Unternehmen. Hier entscheidet sich, wohin sich die Aktienmärkte entwickeln.
Anleihen haben gegenüber Aktien relativ an Attraktivität gewonnen. Hat TINA (There is No Alternative) endgültig ausgedient?
TINA ist passé. Neu gilt das sogenannte TARA, "There are Reasonable Alternatives", das von Goldman Sachs ins Spiel gebracht worden ist. Aktien sind aber noch immer die interessanteste Anlageklasse für langfristige Investoren, da sie gegenüber Anleihen immer noch relativ attraktiv sind. Das Problem bei den Anleihen liegt darin, dass die inflationsbereinigte Realrendite immer noch ziemlich tief oder zum Teil negativ ist. Für uns sind Anleihen nur zur Diversifikation des Portfolios interessant. Der Anleihen-Bullenmarkt der letzten Jahre, der durch sinkende Inflationsraten geprägt wurde, ist Geschichte. Dies gilt umso mehr, wenn das neue Inflationsregime von Werten zwischen 3 und 4 Prozent Tatsache wird.
Wie beurteilen Sie die Stimmung an den Märkten?
Die jüngsten Umfrageresultate von Bank of America unter Fondsmanagern deuten darauf hin, dass die Stimmung ziemlich nahe am Tiefpunkt angelangt ist. Die Erwartung der Investoren zum globalen Wachstum ist auf das tiefste je gemessene Niveau gesunken und die Cash-Quote ist so hoch wie seit zwanzig Jahren nicht mehr.
Was bedeutet dies für die Positionierung von Anlegerinnen und Anleger auf dem Aktienmarkt?
Historisch gesehen ist dies ein taktisches Kaufsignal. Der Aktienmarkt könnte sich daher in den nächsten Monaten erholen. Dies auch, weil sich das technische Bild in den letzten Handelstagen verbessert hat. Genau wegen diesen Indikatoren gilt das Motto: "I'm so bearish that I'm bullish". Wenn alle so negativ sind, ist der Moment für Aktien konstruktiv zu werten.
Sollen Anlegerinnen und Anleger daher jetzt wieder bei Aktien gezielt zukaufen?
Nein, der Zeitpunkt für eine Erhöhung der Aktienquote ist noch nicht hier, da die Gewinnschätzungen für die Unternehmen für das zweite Halbjahr und 2023 noch immer viel zu hoch sind. Diesen Umstand hat der Markt anerkannt. Die Frage ist vielmehr, wie tief die Erwartungen sinken werden. Das zweite Problem stellt die Inflation dar. Falls die Inflation entgegen unserer Erwartung zwischen 4 und 5 Prozent bleiben solle, hätte die Fed Spielraum für weitere Zinsschritte. Dies ist am Markt nicht eingepreist.
Was müsste passieren, damit Sie Ihre Haltung gegenüber Aktien ändern?
Es braucht mehr Daten darüber, dass die Inflation zurückkommt und die Wirtschaftsabkühlung ihren Tiefpunkt durchschritten hat, bevor wir gross in Aktien investieren.
Sie sagten zuvor, dass sich ein taktisches Fenster für Wachstums-Aktien eröffnet. Wie ist das gemeint?
In den USA ist eine Sektorrotation von Value zu Wachstumsaktien im Gange. Dies, weil die Realzinsen und die Inflation ihre Höhepunkte wohl erreicht haben. Es ist eine Opportunität für die nächsten Monate. Wenn sich ein Inflationsregime zwischen 3 bis 4 Prozent einstellt, spricht dies für die nächsten Jahr eher für Value-Aktien. Die Visibilität ist momentan noch zu gering, so dass wir bei der Wahl zwischen Value- und Wachstums-Aktien neutral eingestellt sind.
Welches Vorgehen empfehlen Sie?
Wir waren lange übergewichtet bei defensiven Werten. Wir empfehlen aus strategischer Perspektive, selektiv gutgelaufene Aktien zu verkaufen und in Wachstumswerte umzuschichten. Das ist unser taktischer Call für die nächsten Monate.
Bei welchen Wachstumstiteln sehen Sie die grössten Opportunitäten?
Wir empfehlen Alphabet, Microsoft, Amazon, Visa und LVMH zum Kauf. Man sollte sich auf solche Grossunternehmen konzentrieren, die positive Cashflows und Erträge generieren. Stark korrigierte Small Caps, die mehrheitlich noch unprofitabel sind, bieten noch keine Kaufgelegenheit. Das Risiko ist im gegenwärtigen Umfeld zu hoch, da viele dieser Unternehmen auf externes Kapital angewiesen sind, um zahlungsfähig zu bleiben.
Value-Aktien sind langfristig interessant. Welche?
Langfristig setzen wir auf Ölunternehmen wie ConocoPhillips, Shell oder TotalEnergies, obwohl wir kurzfristig wegen der Konjunkturabschwächung vorsichtig sind. Die Ölmultis sind im Vergleich zu früheren Zyklen viel disziplinierter in ihrer Investitionsplanung. Sie sind unter Druck, die Ausschüttungen an die Aktionäre hochzuhalten. Auch Autoaktien wie Volkswagen sind interessant. Im aktuellen Umfeld haben Autoaktien einen schweren Stand, aber der Markt übersieht, dass die Industrie in diesem Zyklus besser unterstützt ist. Zudem setzen wir weiterhin auf Pharma. Der Sektor ist trotz guter Performance immer noch tief bewertet. Hier favorisieren wir Bristol-Myers Squibb. Im IT-Sektor setzen wir auf Nokia und Ericsson. Im Telekommunikationssektor empfehlen wir AT&T zum Kauf.
Angesichts der konjunkturellen Unsicherheit haben insbesondere zyklische Aktien weiterhin ein gewisses Korrekturpotential. Ab welchem Zeitpunkt bieten sich hier Opportunitäten?
Es ist zu früh, um bei den Zyklikern einzusteigen. Die relative Performance bei Zyklikern erreicht aufgrund historischer Daten aus den letzten 30 Jahren den Tiefpunkt einen Monat bevor man den Tiefpunkt bei den Konjunkturdaten erreicht hat. Die Einkaufsmanagerindizes als Frühindikatoren werden in den nächsten Monaten noch weiter abnehmen. Bei den Zyklikern besteht momentan aber auch das Problem, dass die konjunkturelle Verlangsamung bei den Gewinnerwartungen noch gar nicht eingepreist ist. Wenn man das vorwärtsgewandte Kurs-Gewinn-Verhältnis betrachtet, sehen viele Titel nur wegen der zu hohen Gewinnerwartungen günstig aus.
Welche zyklischen Titel sehen Sie zu einem späteren Zeitpunkt in der Poleposition?
Auf dem Schweizer Markt finden wir Georg Fischer interessant. Insbesondere deswegen, weil sich das Profil in den letzten Jahren geändert hat. Das zyklische Automobilgeschäft wurde ab- und das defensive Geschäft mit Rohrleitungssystemen ausgebaut. Georg Fischer ist ein Erholungskandidat, wenn zyklische Werte am Markt wieder gefragt sind. Ebenfalls interessant ist Sika, deren Aktienpreis stark zurückgekommen ist.
Julius Bär hat Anfang Juli den Finanzwerten die Liebe gekündigt und diese von «Overweight» auf «Neutral» abgestuft. Inwiefern bestätigen die jüngsten enttäuschenden Quartalszahlen der UBS und der Credit Suisse Ihre Sicht der Dinge?
Wenn man allgemein die Zahlen der Banken zum zweiten Quartal betrachtet, wies der Zinsertrag als einzige Komponente einen klaren Anstieg auf. Wegen der Konjunkturabschwächung dürfte aber auch diese Dynamik abnehmen und der Höhepunkt erreicht sein. Neben tieferen Börsen, passiven Kunden könnten mit dem konjunkturellen Gegenwind auch bei den im Kreditgeschäft engagierten Universalbanken die Kreditausfälle zunehmen. Ihre Zahlen für das dritte und vierte Quartal werden hier Klarheit schaffen.
Finanztitel bleiben halt im Endeffekt zyklisch…
Ja, dies kommt hinzu. Wenn man die Performance der Banken relativ zum Markt betrachtet, besteht die höchste Relation mit den Anleiherenditen, die bei einer konjunkturellen Abschwächung eher zurückkommen. Es kommt ein anspruchsvolles Umfeld für Bankentitel.
Mathieu Racheter ist seit 2021 Head of Equity Strategy bei der Bank Julius Bär. Zuvor war er als Schwellenländerstratege tätig. Er verfügt über einen Masterabschluss der Universität St. Gallen und ist CFA und CAIA Charterholder.