Soll sich Deutschland das wirklich entgehen lassen? 2,19 Prozent mehr Reallohn, eine um 0,43 Prozentpunkte tiefere Arbeitslosenquote und 4,7 Prozent mehr BIP. Das versprechen ihnen die Institute IFO und CEPR für den Fall, dass die transatlantischen Handels- und Investitionsabkommen TTIP (EU mit USA) und CETA (EU mit Kanada) in Kraft treten. Die simple Überlegung hinter diesen lächerlich präzisen Prophezeiungen ist die: Wenn die Zölle wegfallen, dann lohnt es sich, die ganze Produktion hüben oder drüben zu konzentrieren und dank höheren Stückzahlen tiefere Stückkosten zu erzielen. Dann sinken die Preise, die Leute können sich mehr leisten und schaffen damit neue Arbeitsplätze.
Ähnliche Überlegungen gelten für den Wegfall der nicht tarifären Handelshemmnisse. Wenn die Produkte nur noch an einem Ort zugelassen werden müssen, spart das administrative Kosten und Personal - das dann anderswo produktiver eingesetzt werden kann. Trifft man passende Annahmen und füttert alles in ein ökonometrisches Prognosemodell, so fällt es einem wie Schuppen von den Augen, dass sich all diese Effekte zu Plus 4,7 Prozent BIP zusammenläppern.
Mehr Arbeitslosigkeit statt mehr Konsum
Doch bei aller Mathematik hängt letztlich alles bloss von den getroffenen Annahmen ab. Die wichtigste davon unterstellt erstens, dass die Unternehmen alle Kostenvorteile über tiefere Preise an die Kunden abgeben und zweitens, dass diese die zusätzliche Kaufkraft für Konsum (inkl. Freizeit) nützen. Was aber, wenn die Unternehmen ihre höhere Produktivität lieber in Profit ummünzen? Wenn sie zu diesem Zweck TTIP und Ceta benutzen, um erst einmal ihre Konkurrenten jenseits des Atlantiks aufzukaufen um so – als Monopolist – die Preise zu erhöhen? Trifft diese Annahme zu, führt eine höhere Produktion nicht zu mehr Konsum, sondern zu mehr Arbeitslosigkeit. Dies wiederum bietet den Grossunternehmen die Chance die Lohnkosten zu senken, indem sie z.B. mit einer Produktionsverlagerung drohen.
Laien wissen, welche Annahmen plausibler sind. Sie erfahren es am eigenen Leib. Den Ökonomen in ihren geschützten Ökonometrie-Werkstätten fehlt dieser Erfahrungsschatz. Ihnen hilft vielleicht die Erinnerung an den Cecchini-Report der EU-Kommission. Der kam 1988 zum Schluss, dass der europäische Einheitsmarkt ab 1992 dank verschärfter Konkurrenz zu einen beschleunigten Wirtschaftswachstum und zu einem einmaligen Wachstumsschub von 5 bis 8,6 Prozent BIP-Prozent EU-Raum führen würde. In Wirklichkeit aber hat sich das Wachstum ab 1992 nicht beschleunigt, sondern deutlich verlangsamt. Deutschlands BIP pro Kopf etwa ist von den zehn Jahren vor 1992 im Schnitt um 2,6 Prozent gestiegen. Danach nur noch um 1,2 Prozent.
Dieses bisschen Wachstum ist zudem längst nicht mehr wie einst allen zugute gekommen. Das Markteinkommen (vor Steuern und staatlichen Zuwendungen) des Durchschnittsdeutschen ist zwischen 1991 und 2005 um nicht weniger als 11 Prozent und das der ärmeren Hälfte gar um 33 Prozent geschrumpft. Der Sozialstaat konnte die Verluste zwar weitgehend abfedern, wurde dadurch aber überfordert. Im Gegenzug sind die Gewinne der Unternehmen markant gestiegen. Dank einer gesunkenen Lohn- und Steuerquote erzielen sie heute Gewinne in einer Grössenordnung, die früher undenkbar gewesen wäre.
Wohlstand ist eine Frage der Institutionen
Für die Wirtschafthistoriker kommt dies nicht überraschend. Sie wissen, dass die extreme Arbeitsteilung zu der wir Menschen fähig sind, und nur deshalb zu Wohlstand verholfen hat, weil weil wir deren Kehrseite – die extreme Abhängigkeit - in Schach gehalten haben. Abhängigkeit schafft Ausbeutung, Ausbeutung zerstört das Vertrauen und damit das Fundament einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Wirtschaftsgeschichte ist deshalb eine Geschichte der Institutionen – Zünfte, Gewerkschaften, Gerichte, Sozialstaat, Kartellecht, Konjunkturpolitik etc. Wohlstand ist eine Frage der Institutionen.
Der „modernen“ Ökonomie fehlt dieses Wissen. Sie ist geistig im ausgehenden 18. Jahrhundert stecken geblieben und steht immer noch unter dem Eindruck des gewaltigen Produktivitätsfortschritts, den damals der Übergang vom Handwerk zu Industrie möglich gemacht hatte. Adam Smith, David Ricardo und später Leon Walras schufen damals den intellektuellen Instrumentenkasten, mit dem die Ökonomen heue noch hantieren. Die Stichworte heissen komparativer Vorteil, Skalenerträge, allgemeines Gleichgewicht und atomarer Wettbewerb. Mit der Annahme, dass der Preiswettbewerb jegliche (Markt-) Macht verunmöglicht, wurde das Problem der Abhängigkeit und der Ausbeutung wegdefiniert. Wohlstand kommt für diese Denkrichtung vom Handel.
Doch das Zeitfenster, in dem dies wenigstens halbwegs richtig war, ist längst geschlossen. Das Potential der Skalenerträge ist weitgehend ausgereizt und gleichzeitig wiegen die Folgen des Kontrollverlusts immer schwerer. Allein schon die Tatsache, dass die Konjunkturhoffnungen allein auf der Zinspolitik der Notenbanken ruhen, zeigt, wie schwach die Institutionen, die uns schützen sollten, geworden sind. Ein weiteres schlagendes Indiz ist die Tatsache, dass die TTIP- und Ceta-Verhandlungen nicht von den gewählten Regierungen sondern von der EU-Zentrale geführt werden.
Die FAZ hat wohl recht: Die Globalisierungsgegner haben weder die Ceta- und TTIP-Verträge noch die einschlägigen Gutachten gelesen. Doch das müssen sie auch nicht. Wichtig ist bloss, dass sie begriffen haben, dass unsere wirtschaftliche Zukunft nicht von weiteren Skalenerträgen abhängt, sondern von den Institutionen. Wir müssen die Kontrolle über unser Schicksal zurückgewinnen. Darum geht es. Alles andere ist ökonometrische Kaffeesatz-Leserei.
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