Die «Zwei Grossen» sind vorbei. Jetzt wird abgerechnet. Von Politikern und Ökonomen. Wird Chinas Wirtschaft sanft und wie erwünscht Höhe verlieren oder eine krachende Landung hinlegen?
Bei der Antwort kommt es im ökonomischen wie im wirklichen Leben natürlich auf den Standpunkt an. Zudem ist die Antwort nicht ganz unerheblich für die Volksrepublik, steht doch viel auf dem Spiel: Das Wohlergehen der, wie es im plastischen Propaganda-Lingo heisst, chinesischen Massen nämlich. Wenn es diesen Massen nicht gut geht, dann droht durch soziale Unruhen Chaos. Dadurch wiederum könnte, wie schon so oft zu kaiserlichen Zeiten, das Mandat des Himmels verloren gehen. Die allmächtige Kommunistische Partei verlöre mit andern Worten die Macht und würde auf dem Müllhaufen der Geschichte enden. Da sei Marx, Engels, Lenin, Stalin, Mao und Deng vor. Aus diesem und mindestens einem Dutzend anderen Gründen ist eine einigermassen plausible Antwort auf die Frage "weiche oder harte Landung" nicht ganz unerheblich.
Da jedoch die Wirtschaftswissenschaft - was noch längst nicht alle, selbst in Academia, mitbekommen haben - keine exakte Wissenschaft ist, gibt es auf solche Grundfragen verschiedene Antworten und daraus abgeleitete Strategien und Massnahmen. Wie immer jedoch die Antwort ausfällt, sind sich die meisten Analytiker in China wie im Ausland einig, dass die Ökonomie des Reichs der Mitte einer "Restrukturierung" bedarf.
Betrachtet man das ökonomische Wachstum, die Mehrung des Wohlstands breiter Kreise und die Reduzierung der absoluten Armut in China, haben die roten Spitzenmandarine in den letzten 35 Reformjahren nicht alles falsch gemacht, sondern meist eine leidlich gute Anwort gefunden. Trotz namhaftem Widerspruch im Westen, unter anderem von Wirtschafts-Nobelpreisträgern notabene und den üblichen anti-kommunistischen Untergangspropheten.
Dass die Frage nach der weichen oder harten Landung einmal mehr gerade jetzt aufs Tapet kommt, hat mit dem ökonomischen Paradigmenwechsel im Reich der Mitte zu tun. Nach Massgabe der seit gut einem Jahr die Regierungsgeschäfte besorgenden Führung unter Staats- und Parteichef Xi Jinping und Premierminister Li Kejiang soll das chinesische Wachstum künftig vor allem "nachhaltig" sein. In diesem Allerweltsbegriff sind sowohl die Bereiche Umwelt als auch sozialer Friede enthalten. Das Wachstum wird zwar niedriger sein als in den letzten 30 Jahren mit per annum durchschnittlichen 10 Prozentpunkten. Von der Abhängigkeit von Export- und Infrastrukturinvestitionen soll die Volkswirtschaft Abschied nehmen und mehr auf Binnennachfrage und Konsum setzen.
Den massgeblichen Ton in der Debatte gab - qua Funktion - schon einmal Premier Li Kejiang an. In seiner Grundsatzrede im März vor den "Grossen Zwei" - den rund 3000 Delegierten des Nationalen Volkskongresses und den gut 2000 Abgeordneten der beratenden Politischen Konsultativkonferenz - gab er wie schon im vergangenen Jahr zunächst einmal mit 7,5 Prozent ein für China bescheidenes Wachstumsziel an. Die meisten Ökonomen - sowohl aus China als auch aus dem Ausland - rechnen für 2014 im Gegensatz zum vergangenen Jahr eher mit 7 Prozent. Doch für Premier Li viel wichtiger war die Betonung auf Restrukturierung der Volkswirtschaft durch schnelle Reformen. Im Mittelpunkt, so Li, stehe der Markt, den er nicht mehr als sehr wichtig sondern als "entscheidend" definierte.
So wird denn die "sozialistische Marktwirtschaft chinesischer Prägung" wegleitend sein auch bei so entscheidenden Reformen wie dem Bank- und Finanzsektor,der Schaffung von jährlich weit über zehn Millionen neuen Arbeitsplätzen, dem Abbau von Überkapazitäten bei nicht profitablen Staatsbetrieben und - dies vor allem - bei der Einebnung der bis anhin wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich sowie Stadt und Land. Die Privatwirtschaft wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Schon jetzt generieren die findigen Privatunternehmer über 60 Prozent aller Jobs. "Das Wachstumsziel", so Premier Li, "wird den Provinzen signalisieren, dass die Zentralregierung zwar einen gewissen Grad an Wachstum garantieren wird, ohne aber einige dringend nötige, schmerzhafte Reformen zu vernachlässigen." Anders ausgedrückt: ohne schnelle Reformen keine weiche Landung.
Kein Wunder, ist man sich unter Ökonomen weniger einig als unter Chinas Spitzenpolitiker. Die Zunft der Pessimisten führt Princeton-Professor und Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman an. In seinen konzisen wöchentlichen Kolumnen in der "New York Times" prophezeit er trotz aller Bemühungen der chinesischen Führung einen "Crash", eine harte Landung also. Chinesische Ökonomen wiederum bemängeln im Detail dies und das an den vorgeschlagenen oder bereits in Umsetzung begriffenen Reformen, sind aber überzeugt, dass die chinesische Wirtschaft weich abgefedert landen werde und für die nächsten fünf bis zehn Jahre mit einer jährlichen Rate zwischen 5 und 7 Prozent "nachhaltig", also umwelt- und sozialverträglich wachsen wird.
Unter chinesischen Ökonomen gibt es aber auch kreativere Köpfe abseits vom gängigen Diskurs. Einer von ihnen ist Cai Hongbin, Dekan der Guanghua-Management-School an der Pekinger Elite-Universität Beida. Im Gegensatz zur Mainstream-Lehrmeinung, die einer Wiederherstellung des wirtschaftlichen Gleichgewichts das Wort redet, fordert Professor Cai Neues. Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen stellt er die sowohl von Optimisten als auch Pessimisten geteilte Akzeptierung der von der Regierung gelieferten statistischen Daten in Frage. Nicht, dass Statistiken heute wie früher zu Maos Zeiten bewusst gefälscht würden, doch, so die Argumentation von Wirtschaftswissenschafter Cai, werden in Chinas Statistiken verschiedene Faktoren unterbewertet. Das führe dazu, dass beispielsweise Konsum oder Investitionen falsch eingeschätzt werden. Das Verhältnis Konsum zu Investition zum Beispeil sei, falls korrekt berechnet, heute in China etwa so, wie zur Zeit des Paradigmenwechsels in Japan und Südkorea zwischen den 1960er und 1980er Jahren. Cais Beurteilung eröffnet in der Formulierung von Reformzielen natürlich ganz andere Perspektiven.
Für Professor Cai ist deshalb die Wiederherstellung des wirtschaftlichen Gleichgewichts zwar wichtig, doch im Vordergrund steht etwas ganz anderes. Für ihn sind Innovation, Kreativität und höhere Produktivität die entscheidenden Faktoren, die in der Zukunft ein "nachhaltiges" Wachstum garantieren werden. Oder um es in einem Wahlkampfslogan des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton auszudrücken: "It’s Innovation, Stupid!".