Wie immer, wenn es in den letzten 35 Jahren um Chinas Wirtschaftreform ging, hatten westliche Untergangspropheten ein gewichtiges Wort mitzureden. Doch Chinas rote Mandarine mussten irgendetwas richtig gemacht haben, sonst wäre Chinas Volkswirtschaft nicht dort, wo sie sich heute befindet. Den Chinesinnen und Chinesen geht es heute so gut wie noch nie in ihrer jahrtausendealten Geschichte. Lehrreich und gut ist es, sich in Kommentare westlicher Qualitätsblätter der letzten drei Jahrzehnte zu vertiefen. Die Krise, der Untergang war nach Meinung der neunmalklugen Kolumnisten immer nur eine Frage der Zeit.
Gewiss, es gab Schwierigkeiten. Die kapitale Krise jedoch ist nicht eingetreten. Ein, zwei Schritte zurück vom kulturellen Euro-Zentrismus wären wohl bei der Analyse hilfreich gewesen. Die westliche Konvergenztheorie zum Beispiel funktionierte in China nicht, d.h. das automatische Einsetzen von Demokratie bei wirtschaftlich schnellem Wachstum. Und noch bis vor einem Jahrzehnt war vielen in Europa - nicht aber in den Pazifikstaaten USA oder Kanada - nicht klar, dass sich das wirtschaftliche und politische Zentrum vom Atlantik in den Pazifik verlagert hatte. Europa und Amerika sind zwar noch längst nicht alte Geschichte. Dennoch müssten sich Politiker und Politikerinnen im Westen und mithin auch der in der Schweiz langsam fragen, warum denn China im Augenblick einen offensichtlichen Vorteil hat.
Die Antwort, wenn man sie hören will, ist relativ einfach. Chinesische Politiker können es sich leisten, langfristig und strategisch zu denken. Die müssen sich nicht alle paar Jahre den Wählern stellen. Der seit zwei Jahren amtierende und beim Volk bereits sehr beliebte Staats- und Parteichef Xin Jinping zum Beispiel wird bis ins Jahr 2022 regieren. Politiker und Politikerinnen im Westen kommen nicht darum herum sich zu fragen, ob denn der permanente Wahlkampf nicht kontraproduktiv ist. Auch und gerade in der Schweiz. Ähnlich wie in China derzeit ein neues ökonomisches Modell gefragt ist, wäre im Westen ein neues politisches Modell überlebenswichtig. Auf der Grundlage der grossen Vorteile wie zum Beispiel Rechtsstaat, Transparenz, Demokratie. Chinesische Bekannte allerdings, die in Amerika oder Europa studiert haben, sagen mir oft, dass westliche Demokratie à la USA oder Italien oder Frankreich oder Spanien nun tatsächlich nicht ein Modell für China sein könne...
Wie viel Wachstum muss es sein?
Die harten Fakten in der "sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung" sprechen jenseits aller Theorien auch am Ende des laufenden Jahres für eine solide Leistung, freilich bei zusehens abnehmendem Wachstum. Die Zentralbank - die unter der Ägide von Partei und Regierung stehende Volksbank - hat deshalb mit einer Zinssenkung in der zweiten Hälfte November dem Markt eine Lockerung der Geldpolitik signalisiert. Ein allzu grosser Einbruch des chinesischen Wachstums werde nicht tatenlos akzeptiert. Das anvisierte aktuelle Wachstumsziel: 7 Prozentpunkte, plusminus. Nach Berechnungen chinesischer Ökonomen braucht es ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts von mindestens 6 bis 7 Prozent, um die jährlich rund zehn Millionen neuen Arbeitsplätze zu schaffen. Andere Ökonomen sehen sogar eine mögliche Bandbreite von 5 bis 7 Prozent. Ob das wirklich zutrifft, bezweifeln einige chinesische Wirtschaftswissenschafter mit dem Hinweis, dass noch vor zehn Jahren offiziell 8 Prozent Wachstum das absolute Minimum zur Schaffung von Millionen von neuen Arbeitsplätzen darstellten.
Wie auch immer, im Augenblick wird von der chinesischen Regierung der Hebel der Geldpolitik verwendet, um das Wachstum in der geplanten Grössenordnung zu halten. Was für ein Unterschied zu den Jahren der westlichen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009, als China am Rande einer Rezession mit einer kapitalen Finanzspritze von 560 Milliarden US-Dollar der kränkelnde chinesischen Volkswirtschaft wieder auf die Sprünge half. Heute ist natürlich der Spielraum für geldpolitische Impulse weit grösser als damals, um dem globalen zyklichen Ungleichgewicht erfolgreich die Stirne zu bieten. Im Gegensatz zu Europa, das das geldpolitische Pulver schon längst und ohne Not verschossen hat.
Chinas Wirtschaft steht denn seit Amtsantritt von Staats- und Parteicher Xi Jinping vor zwei Jahren mitten in einem fundamentalen Umbruch. Eine auf Export, Investitionen und Schulden orientierte Wirtschaft soll zu einer von Konsum, Binnennachfrage, Dienstleistungen und Innovation angefachten Ökonomie mutieren. Um es im Ökonomen-Slang zu sagen: China steht kurz vor dem Status eines Landes mit mittlerem Einkommen. Da gilt es, wiederum im Ökonomen-Lingo forumuliert, der "Falle des mittleren Einkommens" zu entkommen. Und dieser Falle kann man nach Lehrbuch und Wirklichkeit nur entkommen, wenn man ohne Rücksicht auf Verluste Strukturreformen durchzieht. Innovation wird dabei ganz gross geschrieben. Genau das macht die KP mit weitreichenden, strategischen Beschlüssen im vergangenen und im laufenden Jahr. Wer an einem alten Wirtschaftsmodell festhält, den bestraft - wie es so schön heisst - die Geschichte. Das Schwellenland Brasilien etwa ist ein negatives Beispiel.
Xi wächst über sich hinaus
In der realen Wirklichkeit von Ende 2014 jedoch ist das globale wirtschaftliche Umfeld für China eher schwierig. Die Nachfrage lässt nach, besonders aus Europa. Immerhin ist China auf dem Weg zu einem neuen Wirtschaftsmodell auf gutem Weg. Noch 2008 trugen die Exporte 35% zum Bruttoinlandprodukt bei. Heute sind es nur noch 24%. Das schwächelnde Europa ist immer noch Chinas grösster Exportmarkt. Insgesamt gehen 42% der Exporte nach Europa, Amerika und Japan. Nach den vom ZK vor einem Monat verabschiedeten Beschlüssen befindet sich das Reich der Mitte auf gutem Weg, die ominöse "Falle des mittleren Einkommens" erfolgreich zu umschiffen. Parteichef Xi hat bislang erfolgreich und gegen einigen Widerstand von Vertretern tief verwurzelter Privilegien in der KP durchgegriffen. Nicht nur im Kampf gegen Korruption sondern auch gegen alte Seilschafte im Apparat von Regierung und Partei.
Parteichef Xi freilich setzt nur fort, was das Führungsduo von Parteichef Hu Jintao und dem extrem populären Premier Wen Jiabao von 2003 bis 2012 bereits in Umrissen vorgezeichnet hatte. Allerdings ist Xi zur Überraschung sowohl chinesischer als auch ausländischer Beobachter über sich hinausgewachsen. Seit Revolutionär und Reformübervater Deng Xiaoping gab es wohl nie mehr einen solch starken, überzeugenden Mandarin wie Xi Jinping. Mit dem von westlichen Qualitätsmedien prognostizierten und wohl auch erhofften "chinesischen Gorbatschow" wollte Xi freilich nicht dienen.
Xi ist sich der "Falle des mittleren Einkommens" wohl bewusst. Nicht Wahlkampf sondern strategisches Denken ist gefragt. Sagte doch schon Premier Wen Jiaobao vor zehn Jahren angesichts der "Falle des mittleren Einkommens": "Chinas Wachstum ist instabil, unausgewogen, unkoordiniert und nicht nachhaltig." Das neue Wachstumsmodell setzt sich jetzt, wie die Zahlen zeigen, erfolgreich durch.