Sie kennen die Geschichte: Geht ein Mann unter eine Laterne hin und her, den Blick auf den Boden gerichtet. Fragt ein Passant: „Was suchen sie hier?“ Suchender: „Meinen Schlüssel.“ Passant: „Wo haben Sie ihn denn verloren?“ Suchender: „Drüben im Park.„ Passant: „Und warum suchen Sie ihn denn hier?“ Suchender: „Weil hier Licht ist."

Dieselbe Posse spielt sich seit Jahren in der Wirtschaftspolitik ab. In der Rolle der Laterne: Die Zentralbanken, allen voran die EZB. Sie ist in der EU die einzige Instanz, die noch wirtschaftspolitisch handeln kann. Die Geld- und Zinspolitik ist mittlerweile das einzige wirtschaftspolitische Instrument, das noch eingesetzt werden kann. Der Spielraum der Fiskalpolitik ist schon durch den Maastrichter Vertrag stark eingeschränkt worden, und jetzt  – in der Krise – herrscht erst recht eiserner Sparzwang. In der Arbeitsmarktpolitik geht auch alles nur noch in einer Richtung: Flexibilisieren. Zudem wirkt dieses Instrument, wenn überhaupt, nur sehr langsam. Die Wirkungen der Geldpolitik hingegen können an den Märkten im Sekundentakt verfolgt werden. In einer Generation, die mit Computerspielen aufgewachsen ist, zählt das.

Der verlorene Schlüssel, das ist die zunehmende Ungleichheit, der damit verbundene Rückgang der Nachfrage und der Investitionen und die dadurch bewirkte Arbeitslosigkeit. Doch das Licht der Notenbanken blendet so stark, dass von dem Problem nur noch die paar Symptome erkennbar sind, die von der Geldpolitik beeinflusst werden können. Folglich haben wir jetzt das „Problem“ der sinkenden Preise, sprich der Inflation. Bekämpft wird es mit den Mitteln, die Notenbanken nun mal haben – noch tiefere, ja sogar negative Zinsen und mit dem Drucken von Geld. Konkret, mit der Gratis-Finanzierung von Staatsschulden.

Gewiss. EZB-Chef Mario Draghi tut, was er kann. Und aus deutscher Sicht sogar mehr als er darf. Damit verhindert er zumindest vorerst Schlimmeres. Doch von einem gestandenen Mann mit seiner Erfahrung dürfte man mehr erwarten: Dass er die Posse nicht mitspielt und den Politiker die Grenzen seiner Kunst schonungslos offenlegt. Zwar trifft es zu, dass Wachstum und Vollbeschäftigung normalerweise mit steigenden Preisen verbunden sind. Aber umgekehrt geht es nicht. Selbst wenn Draghi die Inflationsraten erhöhen könnte, wäre nichts gewonnen. Und wenn die Unternehmen keine zusätzlichen Maschinen brauchen, nehmen sie zwar gerne billige Kredite auf, aber leider bloss, um damit ihre Finanzspekulationen zu hebeln.

Schon auf mittlere Sicht wirkt die Politik des billigen Gelds kontraproduktiv. Sie beflügelt Fusionen – und fördert damit den Abbau von Jobs. Sie treibt die Immobilienpreise und die Mieten hoch – und bewirkt damit eine weitere Umverteilung von Arm zu Reich. Und sie gefährdet Renten und Pensionskassen – und verunsichert damit die Konsumenten noch zusätzlich. 

Doch was soll Draghi sonst tun? Nichts, sein Repertoire ist ausgeschöpft. Der verlorene Schlüssel liegt nicht unter seiner Laterne. Die fehlende Nachfrage kommt nicht von tiefen Zinsen oder hohen Inflationsraten. Sie kommt von endlich wieder steigenden Löhnen. Und sie kommt – vorübergehend – auch vom Wiederaufbau der vernachlässigten Infrastruktur, sprich von staatlichen Mehrausgaben. Das alles ist nicht Draghis Bier. Aber er sollte endlich aufhören, so zu tun, als könne seine EZB den Schlüssel ganz allein finden.

 

Werner Vontobel ist Mitautor des kürzlich erschinenen Buchs "Wirtschaft boomt - Gesellschaft kaputt": Finanzkrise, Wachstumskrise, Eurokrise, Staatskrise - der Krisen ist kein Ende, und das weltweit. Und doch propagieren viele Politiker und Ökonomen unverdrossen das Modell einer globalisierten Wirtschaft, obgleich dieses System so deutlich wie nie zuvor mehr Verlierer als Gewinner produziert. Dieses Buch ist die kritische Abrechnung zweier renommierter Journalisten und Ökonomen mit einem Wirtschaftssystem, das das wichtigste Kapital der Menschheit beschädigt: nämlich die Fähigkeit, die Gesellschaft so zu organisieren, dass möglichst viele gut in ihr leben können.