Als Reaktion auf die COVID-19 Pandemie sind die Aktienkurse in Europa und den USA um bis zu 30 Prozent eingebrochen. Das ist ein aussergewöhnlicher Kursrückgang. Niels J. Gormsen and Ralph S.J. Koijen (beide von der Universität Chicago) haben versucht, die Ursachen dieses Kursrückgangs zu erklären. Ihre Ergebnisse liegen mittlerweile in Form eines Arbeitspapieres vor.
Die beiden Forscher verfolgten zunächst die Kursverläufe des US-amerikanischen und europäischen Aktienmarktes anhand des S&P 500 Index und des Euro Stoxx 50 Index. Weder der S&P 500 noch der Euro Stoxx 50 zeigten grössere Reaktionen auf den COVID-19 Ausbruch in China und den Lockdown in Wuhan am 23. Januar. Nachdem jedoch um den 20. Februar herum deutlich wurde, dass sich das Virus auch in Italien, Südkorea und im Iran ausbreitete, kam es zu stärkeren Kurseinbrüchen. Als am 12. März die USA strikte Reisebeschränkungen verhängte und viele europäische Staaten einen Lockdown anordneten, fielen die weltweiten Aktienkurse um über 10 Prozent. Bis zum 18. März hatten die Aktienmärkte gegenüber ihren Höchstständen um über 30 Prozent verloren. Als Reaktion auf die wirtschaftspolitischen Gegenmassnahmen erholte sich der S&P 500 am 24. März dann wieder um fast 10 Prozent.
Viele Investoren flüchteten in sichere Anlagen. Im beschriebenen Zeitraum sank die Rendite für 30-jährige US-Staatsanleihen um 1 Prozentpunkt. Dies bedeutet einen Kursanstieg um 30 Prozent. Deutsche Bundesanleihen zeigten eine vergleichbare Reaktion.
Da Aktienrenditen häufig als Überrendite im Vergleich zur Rendite sicherer Staatsanleihen gemessen werden, sank die Aktien(über)rendite im Vergleich zu 30-jährigen US-Staatsanleihen um 60 Prozent. Eine derart niedrige Aktienrendite gab es in der jüngeren Geschichte noch nie. Es stellt sich deshalb die Frage, welche Schlüsse sich aus diesem dramatischen Kursrückgang ziehen lassen.
Bekanntermassen sind Pandemien von begrenzter Dauer. Beispielsweise verbreitete sich das H1N1 Virus (Spanische Grippe) 1918 und 1919, das H2N2 Virus (Asiatische Grippe) 1957 und 1958, das H3N2 Virus (Hongkong Grippe) 1968 und das H1N1pdm09 Virus (Schweinegrippe) 2009. Obwohl die wirtschaftlichen Konsequenzen zum Teil dramatisch sind, dürften auch sie nicht von unbegrenzter Dauer sein. Die Haupteffekte konzentrieren sich aller Voraussicht nach auf die nächsten beiden Jahre und werden dann abflachen.
Um die Bedeutung dieses Kursrückgangs zu verstehen, verweisen die beiden Forscher zunächst darauf, dass der Wert des Aktienmarktes der Summe aller diskontierten zukünftigen Dividendenzahlungen entspricht. Falls der Aktienmarkt einbricht, müssen also entweder die zukünftigen Dividendenzahlungen sinken oder die Investoren kalkulieren mit höheren Diskontfaktoren.
Bei unveränderten Diskontfaktoren ist der Kursrückgang um 30 Prozent nicht mit einer V-förmigen Erholung der Wirtschaft vereinbar. Bei den gegenwärtigen Diskontfaktoren entsprechen nämlich die Dividendenzahlungen der nächsten 10 Jahre etwa 20 Prozent des aktuellen Wertes des Aktienmarktes. Damit würde ein Kursrückgang um 30 Prozent einem kompletten Dividendenausfall in den nächsten 10 Jahren entsprechen. Bei unveränderten Diskontfaktoren kann der hohe Kursrückgang nur mit einem L-förmigen Wirtschaftsverlauf, bei dem die Dividenden dauerhaft um 30 Prozent sinken, erklärt werden.
Da sich aus den Aktienkursreaktionen nicht ablesen lässt, in welchem Umfang die Erwartungen an künftige Dividendenzahlungen gefallen sind und in welchem Umfang die Investoren mit höheren Diskontfaktoren kalkulieren, analysieren Niels J. Gormsen and Ralph S.J. Koijen die Kurse von Dividenden-Futures. Diese Dividenden-Futures gibt es sowohl für den S&P 500 Index als auch für den Euro Stoxx 50 Index. Sie berechtigen typischerweise zur Auszahlung der (gewichteten) Dividendenausschüttungen des betreffenden Index innerhalb eines betreffenden Kalenderjahres. Da es die Dividenden-Futures für unterschiedliche Kalenderjahre gibt, können die Forscher aus den Kursen die jeweiligen Dividendenerwartungen für unterschiedliche Zeithorizonte berechnen.
Gemäss ihren Berechnungen sanken die Dividendenerwartungen für den zweijährigen Zeithorizont am 12. März infolge der US-Reisebeschränkungen und der Lockdown-Verordnungen in zahlreichen europäischen Ländern im Vergleich zum 1. Januar um bis zu 29 Prozent für den S&P 500 und bis zu 38 Prozent für den Euro Stoxx 50. Für die Jahre 3 bis 7 nach dem Pandemieausbruch werden hingegen wieder ansteigende Dividendenausschüttungen erwartet. Im Vergleich zur globalen Finanzkrise im November 2008 ist dieser Rückgang mindestens ebenso stark, verzeichnet aber ein grösseres Aufholpotenzial.
Bis zum 12. Mai fiel der S&P 500 um mehr als 400 Dollar gegenüber seinem Höchststand, während die Dividendenerwartungen für die folgenden 7 Jahre nur um 118 Dollar zurückgingen. Da die Aktienkurse somit insgesamt viel stärker fielen als die Dividendenerwartungen für die nächsten 7 Jahre, müssen entweder die Dividendenerwartungen für den Zeitraum nach 7 Jahren noch stärker gefallen sein oder die Investoren rechneten mit höheren Diskontierungsfaktoren. Anders lassen sich die starken Kursrückgänge nicht erklären. Da die langfristigen Dividendenaussichten von COVID-19 aller Voraussicht nach nicht stärker betroffen sind als die kurzfristigen, ist es naheliegender, dass die Investoren zukünftige Zahlungen mit höheren Diskontierungsfaktoren abzinsen.
Mit Hilfe eines Modells, das den Zusammenhang zwischen Dividendenwachstum und allgemeinem Wirtschaftswachstum zu erfassen versucht, berechneten die Forscher zudem die Veränderungen der Wachstumserwartungen infolge von COVID-19. Dabei kamen sie zu dem Ergebnis, dass die US-amerikanische Wirtschaft im nächsten Jahr um 3.5 Prozent und die europäische Wirtschaft um 5 Prozent schrumpfen werden.