Vor zwei Monaten schrieben wir an dieser Stelle von Realitäts-Checks. Insbesondere für Europa verorteten wir schicksalsträchtige Weggabelungen. Wir warnten davor, dass der Glaube an ein Ausbleiben eines Zollkrieges reichlich naiv sei. Wir wiesen darauf hin, dass die europäische Klimaschutzpolitik Luftschlösser gleichen, deren Bau die Wirtschaft abwürgt. Und wir stellten fest, dass die Zeit des militärischen Schlendrians bald vorbei sei, und Europa vor der ebenso schwierigen wie kostspieligen Aufgabe stehe, die Streitkräfte aufzurüsten und aufzuwachsen. Die Friedensdividende, so halten wir schon lange fest, sei im Begriff auszulaufen.
Vor zwei Monaten amtierte im Weissen Haus noch ein überzeugter Transatlantiker und NATO-Befürworter, der nicht im Traum an einen Zollkrieg dachte. Vor zwei Monaten galt die europäische Klimaschutzpolitik noch als unumstösslich. Vor zwei Monaten entsprach es noch Europas Selbstverständnis, den unbedingten Sieg der Ukraine zu propagieren und dafür auf gewaltige amerikanische Finanz- und Militärhilfe zu setzen. Vor zwei Monaten war die Welt noch in Ordnung.
Ein brutales Aufwachen
Wie anders sich doch die Lage mittlerweile präsentiert. Der Zollkonflikt wütet in aller Heftigkeit. Die Grünen erlitten in Deutschland Schiffbruch, während die EU-Kommission das als sakrosankt geltende Verbrenner-Aus für 2035 vorzeitig überprüfen will und die Erreichung der Emissionsvorgaben für die Autoindustrie bereits lockerte. Das amerikanische Bekenntnis, (unbezahlte) militärische Schutzmacht Europas zu spielen, wankt bedenklich und droht endgültig zu fallen. Und die Ukraine bleibt schliesslich dem Willen und der militärischen Schlagkraft Europas ausgeliefert, was eine düstere Perspektive ist. Das Land wird mit der Einstellung der US-Hilfe faktisch an den Verhandlungstisch gezwungen – mit denkbar schlechten Karten.
Das ist weder schön, noch gerecht. Aber es ist letztlich das unvermeidbare Ende von Illusionen, in deren Wärme man sich jahrzehntelang einkuschelte. Bereits Richard Morningstar wies in seiner Amtszeit als amerikanischer EU-Botschafter daraufhin, dass Washingtons Befürchtung sei, dass Europa nicht etwa zu viel sondern zu wenig hinsichtlich Verteidigung unternehme. Morningstar hatte seinen Posten von 1999 bis 2001 inne.
Ein Vierteljahrhundert später zeigt sich, dass Europa definitiv zu wenig gemacht hat. Während die USA immer offensichtlicher ihre Aufmerksamkeit in Richtung China richteten und Russland die Krim annektierte und in die Ukraine einfiel, machten es sich die Europäer sich unter dem amerikanischen Schutzschirm gemütlich und gefielen sich in der Rolle der moralisch überlegenen Weltverbesserer. So gibt es mittlerweile etwa in Deutschland das verfassungsmässig garantierte Recht, zwischen sechs Geschlechtern auszuwählen, die EU-Kommission rollte das Bürokratiemonster «Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz» aus, machte die Befestigung von Deckeln an PET-Flaschen verbindlich oder regelte die maximale Rüttelstärke von Bohrmaschinen.
Folgen den Worten auch Taten?
Derweil blieb die Sicherheit auf der Strecke. Das Militär befindet sich weiten Teils in desolatem und ungenügendem Zustand. Das muss die EU nun mit der schroffen Aussenpolitik Trumps auf die harte Tour lernen.
Hat man den Weckruf in Europa endlich vernommen? Angesichts der Hektik dieser Tage scheint es fast den Eindruck zu machen. Indessen sind Zweifel angebracht. Man erinnere sich daran, dass Europa 2001 nach dem Ende der Jugoslawienkriege praktisch am genau gleichen Punkt stand wie heute. Auch damals schafften es die Europäer nicht, vor ihrer Haustür für Ordnung zu sorgen, und es brauchte die Amerikaner, um den Krieg auf dem Balkan zu beenden. Auch damals überboten sich die Europäer im Nachgang mit Ankündigungen eines Rucks, der durch das europäische Verteidigungswesen gehen müsse. Von einer «Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik» (GASP) war die Rede, ebenso vom Aufbau einer europäischen Eingreiftruppe. Passiert ist bekanntlich – nichts.
Die Skepsis, dass auch dieses Mal nach einer Phase des rhetorischen Aktivismus erneut wenig bis nichts zustande gebracht wird, ist daher nicht unbegründet. Doch auch wenn der Willen stark sein sollte, belibt die Frage angesichts allenthalben angespannter Staatsfinanzen, ob und zu welchem ordnungspolitischen Preis der Aufbau der Verteidigungsfähigkeit umgesetzt werden kann. Denn schlussendlich gibt es hierfür nur zwei Optionen. Beide sind nicht erbauend.
Schwierige Finanzierungsfrage
Entweder finanzieren die europäischen Staaten die Verteidigungsausgaben selbst über die Aufnahme zusätzlicher Schulden. Die neue deutsche Regierung aus SPD und Union ist im Begriff, diesen Weg zu beschreiten. Mittels des Begriffs «Sondervermögen» wird dabei die Einhaltung der grundgesetzlich verankerten Schuldenbremse mehr oder weniger elegant umgangen. Wie die ablehnende Haltung der Grünen zum entsprechenden Gesetzesentwurf zeigt, sind aber der Kreativität keine Grenzen gesetzt, was denn alles als Verwendung von Sondervermögen zu rechtfertigen ist. Sachfremde Begehrlichkeiten sind vorprogrammiert und drohen die Schuldenbremse zur Makulatur verkommen zu lassen.
Doch auch in Ländern ohne haushälterisches Bremsinstrument führt der neue Wehrertüchtigungswille zum ordnungspolitischen Sündenfall – bzw. zur Fortsetzung desselbigen. Wie die meisten Euro-Staaten die unzähligen Verteidigungs-Milliarden stemmen wollen, ohne die europäischen Konvergenz-Kriterien buchstäblich mit Füssen zu treten, ist schleierhaft. Die sowieso schon scheintoten Maastricht-Kriterien werden endgültig zu Grabe getragen.
Kaum besser scheint vor diesem Hintergrund die Idee von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einer Aufrüstungsfinanzierung mittels Darlehen in Höhe von 150 Milliarden Euro an Länder, die aufgrund zu hoher Zinsen bereits heute Mühe haben, sich am Kapitalmarkt frisches Geld zu beschaffen. Zusätzlich schlägt von der Leyen vor, besagten EU-Schuldenregel für vier Jahre zu lockern, um damit 650 Milliarden Euro nationale Rüstungsinvestitionen zu ermöglichen. Bedingung wäre, dass die Schuldnerstaaten ihre Verteidigungsausgaben um 1,5 Prozent des jeweiligen BIPs erhöhen.
Die Probleme offenbaren sich auch hier erst auf den zweiten Blick: So wirkt die Rückzahlungspflicht etwas gar blauäugig. Was, wenn ein gewichtiges Mitgliedsland dieser nicht nachkommt? Würde dies tatsächlich als Zahlungsausfall taxiert werden? Notabene nachdem sowohl Frankfurt als auch Brüssel seit Jahren alles Erdenkliche unternehmen, um ja keine Zweifel an der Solidität der Euro-Staaten aufkommen zu lassen? Das scheint unwahrscheinlich. Wenn aber die Rückzahlung kaum durchsetzbar ist, soll man die Finanzierung der Verteidigungsfähigkeit auch als das benennen, was sie ist: Eine Gemeinschaftsverschuldung, für welche die Mitgliedsstaaten solidarisch haften und die gemäss den europäischen Verträgen ausgeschlossen ist.
Abgesehen davon sind auch praktische Umsetzungsfragen kritisch zu betrachten. Wie wird die vorgesehene Mittelverwendung im Sinne von Verteidigungsfähigkeit sichergestellt? Was nach trivial anmutet, gibt mit Verweis auf die teilweise abenteuerliche Verwendung der Hilfen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds durchaus zu denken.
Wie auch immer Europa die Aufrüstung finanziert – eine explodierende Staatsverschuldung ist unausweichlich. Schulden, die irgendwann zurückzubezahlen und zu verzinsen sind. Dies wird den Handlungsspielraum für Strukturreformen, Energiewende und Wachstumsimpulse zusätzlich einengen. Wir erwarten daher, dass selbst im besten Fall der Ausbau der Verteidigungsfähigkeit höchstens mittelfristig eine konjunkturbelebende Wirkung entfaltet. Langfristig wird sie für Europa zu einer Hypothek.