Das Aufdecken potentieller Risiken in der Weltwirtschaft ist genauso schwierig, wobei unsere Instrumente dafür weniger gut entwickelt sind als in der Seefahrt.
Die Verfassung einer Volkswirtschaft wird in der Regel anhand von Kennzahlen wie Inflation oder Bruttosozialprodukt (BIP) beurteilt. Aber diese Werkzeuge sind bestenfalls grobmotorisch und bisweilen sogar stumpf: Gutverdiener und Bezieher niedriger Einkommen empfinden die Inflation in einem Land höchst unterschiedlich, während das BIP-Wachstum als Ganzes gemessen die erheblichen Auswirkungen der demographischen Entwicklung möglicherweise ausser Acht lässt. Ein Paradebeispiel hierfür ist Japan. Obwohl der Konsum viele Jahre lang nur eine extrem niedrige oder sogar negative Inflationsrate ermöglichte und das BIP-Wachstum nach internationalen Standards ebenfalls extrem niedrig war, konnte das Land einen hohen Lebensstandard und eine niedrige Arbeitslosenquote halten, vor allem aufgrund des sehr hohen BIP pro Kopf. In einer alternden Welt werden Pro-Kopf-Kennzahlen immer wichtiger. Sehr verwirrend ist auch die Unsicherheit darüber, wie gut herkömmliche Tools zur Messung der Wirtschaftsaktivität die virtuelle Online-Wirtschaft erfassen, während die Berücksichtigung sozial-ethischer Aspekte wie z. B. der Ungleichheit der Einkommen bei der Gesamtbeurteilung der Verfassung einer Volkswirtschaft immer mehr an Bedeutung gewinnt.
Nicht weniger problematisch ist die Beurteilung der finanziellen Risiken. Unsere Methoden basieren vor allem auf quantitativen Techniken, die von der Prämisse ausgehen, dass die Preisvolatilität ein perfekter Indikator für das Risiko ist. Aber die kurzfristige Preisvolatilität ist zumeist ein wenig brauchbarer Indikator für sonstige wesentliche Risiken wie das Kredit-, Liquiditäts- oder Konkursrisiko. So spiegelt sie das Risiko des endgültigen Kapitalverlusts - des nicht mehr wieder gut zu machenden Verlusts von Geld - nicht präzise wider. In der Meereskunde setzen die Forscher mittlerweile Satellitenbilder ein, um Eisberge vom Weltraum aus zu lokalisieren. Auch wir müssen einen neuen Ansatzpunkt finden, der eine breitere Darstellung der Risiken ermöglicht. Dabei müssen sowohl qualitative als auch quantitative Methoden zum Einsatz kommen, denn effizientes Risikomanagement ist Wissenschaft und Kunst gleichermassen. Bei der Risikosteuerung geht es um Risikominimierung und um Notfallplanung. Die Tatsache, dass ein bestimmtes Ereignis theoretisch nur einmal in 200 Jahren eintritt, ist völlig irrelevant für einen Investor, wenn das Ereignis genau jetzt eintritt.
Dies sind wichtige Überlegungen, denn an den Finanzmärkten navigieren wir derzeit - bildlich gesehen - in vielerlei Hinsicht in nicht kartographierten Gewässern und ohne Satellitenbild als Unterstützung. Die quantitative Lockerung (QE) hat durch reichliche Liquidität das Finanzsystem vor dem Einfrieren bewahrt, aber wer weiss, wo sich nach dem Zudrehen dieses jahrelang sprudelnden Warmwasserhahns Eisberge bilden werden? Die Federal Reserve hat ihre Bilanz auf rund USD 4 Billionen, d. h. auf knapp den vierfachen Vorkrisenwert, ausgeweitet. Doch damit steht sie nicht allein - andere Zentralbanken haben es ihr nachgetan. Es gibt kein Handbuch für die drastische Reduzierung einer derart aufgeblähten Bilanz auf "Normalmass". Fest steht nur, dass die Fed dabei nicht mit voller Kraft voraus segeln kann Einer der Hauptfehler der Finanzdienstleistungsbranche ist der Glaube an ihre eigene Unbesiegbarkeit. Dies kann ebenso auf unsere eigene Geschäftstätigkeit wie auf das von uns im Kundenauftrag verwaltete Vermögen zutreffen. Trotz hoher Eintrittsbarrieren - wie z .B. Regulierung - ist unsere Branche vor Disruption nicht besser gefeit als andere Branchen. Die Technologie eröffnet völlig neue Vertriebskanäle, wobei "Fintech" das Schlagwort "du jour" in der gesamten Branche ist. Der Untergang der Titanic ist nicht nur ihrer Kollision mit einem Eisberg zuzuschreiben, sondern auch dem Glauben ihrer Konstrukteure an ihre Unsinkbarkeit. In unserer Branche sind bisweilen beunruhigende Signale für eine ähnliche Selbstgefälligkeit erkennbar.
Weder eine Ozeanüberquerung noch das Navigieren an den Finanzmärkten sind völlig frei von Risiken, aber wir können einiges tun, um diese Risiken besser zu verstehen: wir können bessere Instrumente zu ihrer effizienten Steuerung entwickeln, so dass wir mit Notfallplänen letztendlich für ihr Eintreten gerüstet sind. Damit steigern wir bei rauer See unsere Überlebenschancen, wenn der Ruf "alle Mann in die Rettungsboote" ertönt.