Einige Ökonomen argumentieren daher, dass Zentralbanken sich von ihren Zwei-Prozent-Inflationszielen verabschieden und niedrigere Inflationsraten akzeptieren sollten. Wir argumentieren, dass dies der falsche Weg wäre.
Für manchen Ökonomen und Prognostiker ist das gegenwärtige Niedriginflationsumfeld ein Schlag ins Gesicht: Seit Jahren steigen Geldmengen und Liquidität ins Unermessliche, seit Jahren bewegen sich die Finanzierungszinsen auf extrem niedrigen und häufig sogar real negativen Niveaus und seit Jahren fallen die Arbeitslosequoten in Ländern wie den USA oder Deutschland auf Rekordtiefstände; nur die Inflationsraten reagieren darauf nicht so wie in der Vergangenheit. Zunächst wurde dies damit erklärt, dass die Weltwirtschaft unterausgelastet blieb und die Schuldenniveaus so hoch, dass die sich erholende Nachfrage noch nicht preistreibend wirken könnte. Weiter wurde argumentiert, dass die globalen Wertschöpfungsketten und der technologische Wandel zu höherer Konkurrenz und geringerer Preissetzungsmacht der Unternehmen führen. Und da Globalisierung und technologischer Wandel sich kaum rückgängig machen lassen, schliessen manche daraus, dass Zentralbanken niedrigere Inflationsraten einfach akzeptieren sollten. Durch eine Abwärtsrevision ihrer Inflationsziele auf beispielsweise ein Prozent statt zwei Prozent wären die meisten Zentralbanken praktisch sofort am Ziel. Diese Argumentation spiegelt unserer Einschätzung nach vor allem den Wunsch wieder, dass Zentralbanken dann auch ihre extrem expansive Geldpolitik beenden könnten und die Leitzinsen nicht mehr im negativen Bereich liegen müssten.
Dieser Schluss liegt weit daneben. Niedrigere Inflationsziele würden zu geringen Inflationserwartungen führen und damit zu höheren Realzinsen. Für die Investitionsnachfrage wäre das katastrophal. Niedrigere Inflationserwartungen würden auch zu geringeren Lohnabschlüssen beitragen. Belasten würde dies vor allem Kreditnehmer, die sich bei Eingang ihrer Finanzierungsverpflichtungen auf eine höhere Entwicklung des Lohn- und Preisniveaus verlassen haben. Deflationsphasen führen daher in der Regel zu steigenden Kreditausfällen, unter denen Banken häufig leiden. Generell sind niedrige Inflationsraten und Zinsen für Banken und Versicherungen schlecht. Ersteren fällt es sehr schwer attraktive Margen zu verdienen, letztere können ihre Ertragsversprechen nicht mehr aufrechterhalten.
Schliesslich ist zu bedenken, dass die sogenannte Lohnquote – das ist der Anteil der Löhne an der gesamten Wertschöpfung – in den vergangenen Jahrzehnten stark gesunken ist. Vor allem bei gering und durchschnittlich Qualifizierten ist dies der Fall gewesen. Kapitalgeber und Hochqualifizierte haben hingegen profitiert. Niedrigere Inflationsziele bergen das Risiko, dass die zuletzt stagnierenden Gehälter breiter Bevölkerungsschichten zementiert würden. Wie wünschenswert das ist, ist kaum mehr eine ökonomische Frage, sondern in erster Linie eine politische. Zu beachten ist dabei, dass die Ressentiments gegen die Eliten, gegen die ungleiche Vermögens- und Einkommensverteilung in vielen Ländern wie den USA und dem UK zu starken Gegenbewegungen und unerwarteten Abstimmungsergebnissen geführt haben. Geduld und Hartnäckigkeit beim Verfolgen bisheriger Inflationsziele, die dafür notwendige Niedrigzinsphase sowie deutlich höhere Lohnabschlüsse, könnten daher vielleicht doch die geringen Übel sein.