Wie geht es nach dem Ende des Lockdowns weiter?
Marc Brütsch: Der Tiefpunkt der Konjunktur war in der ersten Maihälfte. Derzeit sehen wir einen Rebound, vieles wird nachgeholt, die Wirtschaftsaktivität legt wieder zu. Aber diese Erholung wird bis Ende Jahr die Verluste aus der ersten Jahreshälfte nicht kompensieren. Wir rechnen mit einem BIP-Rückgang von minus 3,8 Prozent im gesamten Jahr.
Damit gehören Sie zu den Optimisten unter den Konjunkturprognostikern. Was macht Sie so zuversichtlich?
Wenn wir uns Daten aus ähnlichen Volkswirtschaften wie etwa Deutschland ansehen, zum Beispiel jene der Industrieproduktion, gehen wir davon aus, dass die Falltiefe im April nicht ganz so tief gewesen sein wird, wie viele meinen. Die Ungewissheit ist natürlich sehr gross. Doch durch die relativ frühen Lockerungen hat die Wirtschaft wieder schneller Tritt gefasst.
Woran liegt es, dass man zuvor so pessimistisch war?
Es handelt sich um keinen normalen zyklischen Einbruch. Anders als bei einer Finanzkrise war der Stillstand quasi mit den Händen zu greifen. Allerdings sind während des Lockdowns primär Branchen eingebrochen, die gar nicht so ein grosses Gewicht für das Schweizer BIP haben, wie die Gastronomie und Reisebüros oder auch die Luftfahrt. Verwaltung, Pharmazie und Finanzdienstleister hingegen haben kaum Einbussen hinnehmen müssen, was die Verluste teilweise ausgleicht.
Und längerfristig?
Solange wir mit Covid-19 leben müssen, wird die Wirtschaft nicht zur vollständigen Normalität zurückkehren können. Auch wenn wir derzeit eine gewisse kurzfristige Erholung sehen, weil etwa der Konsum teilweise wieder nachgeholt wird, ist ein Rückgang der Nachfrage auf lange Sicht durchaus möglich.
Wovon hängt das ab?
Erstens davon, ob es zu einer zweiten Infektionswelle kommt, wie stark sie ausfällt und ob sie die Gesundheitssysteme überlastet. Und zweitens davon, wie viele Jobs verloren gehen. Ich rechne damit, dass die Arbeitslosigkeit bis Oktober auf 4,5 Prozent ansteigt.
Würde das die Krise mittelfristig verschärfen?
Ja, das Risiko besteht. Aus streng ökonomischer Sicht könnte man einwenden, dass die Arbeitslosigkeit vorerst in jenen Sektoren ansteigt, die stark von der Krise betroffen sind – im Gastgewerbe und im Veranstaltungsgeschäft – und in denen das Lohnniveau in der Regel eher tief ist. Das mag in der Lehre richtig sein, für die Stimmung und für die Menschen aber ist es gleichermassen schlecht.
Sie erwarten also keinen Konsumeinbruch durch steigende Arbeitslosenzahlen?
In der Schweiz rechne ich nicht mit einem starken Rückgang der Binnennachfrage, zumal wir derzeit eher eine negative Preisentwicklung haben. Das heisst, die Realeinkommen für jene Leute, die jetzt noch einen Job haben, sind gestiegen.
Anders als die Nachfrage aus dem Ausland.
Richtig, die internationale Nachfrage nach Schweizer Dienstleistungen, Konsum- und Investitionsgütern bricht aufgrund der globalen Rezession weg. Das ist das grössere Problem für die hiesige Wirtschaft, insbesondere etwa für die MEM-Industrie und andere Exportbranchen. Bleiben die Aufträge aus, werden auch sie Stellen abbauen. Das wird sehr viel schwerwiegender als die bisherigen Jobverluste.
Und wann läuft die Wirtschaft wieder normal?
Im kommenden Jahr gehen wir von einem Wachstum von 4,4 Prozent aus. Das heisst, Ende 2021 wird das Vorkrisenniveau erreicht sein. De facto sind das zwei verlorene Jahre, denn unter dem Strich wird es so lange kein Wachstum geben. Damit ist die Schweiz eine der Volkswirtschaften, die relativ glimpflich davonkommt.
Das Interview erschien zuerst auf handelszeitung.ch unter dem Titel: "Marc Brütsch: "'Zwei verlorene Jahre'"