Als der Lockdown über Italien verhängt wurde, blieb dem Versorger Enel nicht viel Zeit. 2,6 Gigawatt aus Wasserkraft mussten am Netz bleiben, schnelles Handeln war gefragt. Der Kontrollraum des Kraftwerks Verampio, von dem aus eine Reihe von Wasserkraftwerken in der Region Piemont im stark von der Pandemie getroffenen Norden Italiens gesteuert werden, musste voll funktionsfähig bleiben.
Der Versorger kopierte die Software des Kraftwerks kurzerhand in den Kontrollraum einer kleineren Anlage. Zugleich bekamen mehrere Fachleute Zugriff auf die Daten - sie konnten die Kraftwerke so aus dem Homeoffice steuern helfen. "Wir haben so etwas lange nicht gemacht. Aber es hat sofort geklappt", berichtet Enel-Digitalexperte Giuseppe Serrecchia. "Um auf die Herausforderungen durch die Pandemie reagieren zu können, haben wir die Digitalisierung beschleunigt." Die Italiener stehen damit nicht allein: Quer durch Europa setzen Versorger auf neue Technologien.
Die Pandemie zwingt immer mehr Energieriesen, sicherzustellen, dass notfalls Software und nicht mehr nur Mitarbeiter die für die Versorgung der Bevölkerung wichtige Infrastruktur steuern. Energie-Konzerne, die die Digitalisierung bereits vor der Pandemie vorantrieben, seien nun im Vorteil, sagen Berater. "Diese haben sich als widerstandsfähiger erwiesen", bilanziert die Beratungsfirma McKinsey.
Die Fernüberwachung könne etwa den Betreibern von Netzen helfen, Risiken für ihre Mitarbeiter in er Pandemie zu minimieren und ihre Prozesse zu vereinfachen. Konzerne, die ihren Betrieb von mehreren Orten aus flexibel steuern könnten, seien im Vorteil, sagt auch Steve Jennings, Energie-Experte bei PwC: "Die Krise wird die digitale Revolution in der Branche beschleunigen."
Wie der Auto-Pilot im Flugzeug
Beim Energieriesen E.ON, der allein Netze mit einer Länge von 1,56 Millionen Kilometern betreibt, ist diese Botschaft schon angekommen. Der Konzern will mittelfristig 500 Millionen Euro zusätzlich zu den bereits geplanten 13 Milliarden Euro in die Modernisierung der Energieinfrastruktur investieren - und dabei auch digitale Lösungen vorantreiben. Die Einrichtung virtueller Kontrollräume ist auch bei E.ON bereits möglich.
"Im Extremfall ist unsere hochmoderne Leittechnik in der Lage, über einen gewissen Zeitraum automatisch, quasi wie der Auto-Pilot im Flugzeug, zu arbeiten und mögliche kritische Netzsituationen zu entschärfen", berichtet eine Sprecherin. E.ON setzte in Corona-Zeiten auch verstärkt Drohnen zur Inspektion des weit verzweigten Hochspannungsnetzes ein. "Die Energieversorgung wird immer digitaler. Und auch Energieversorger müssen digitaler werden", sagt E.ON-Chef Johannes Teyssen. "Unsere Mitarbeiter und Kunden haben während der Corona-Krise die Vorzüge der Digitalisierung neu schätzen gelernt."
Die Digitalisierung bietet den Versorgern auch neue Möglichkeiten und Geschäftschancen. E.ON arbeitet etwa an einer App, die - ähnlich wie Facetime - Kunden dabei helfen soll, Probleme zuhause zu lösen, zum Beispiel bei kaputten Stromzählern. Der Kundendienst müsse dann nicht sofort ausrücken, Experten könnten vielmehr über das Tool gemeinsam mit dem Kunden nach dem Zähler schauen und so einschätzen, ob eine Reparatur vor Ort notwendig ist - oder ob der Kunde das Problem mit einem Handgriff selbst beheben kann, sagt die Sprecherin.
Die Versorger investieren nun im grossen Stil, um ihre Daten-Ströme so auszurichten, dass sie nicht nur Kraftwerke und Netze effizient steuern können. Vielmehr wollen sie neue Dienstleistungen anbieten und Umsatzfelder erschliessen. Enel, der erste Versorger, der bereits 2019 alle seine Daten in die Cloud übertragen hat, investierte in den vergangenen drei Jahren allein 4,5 Milliarden Euro in die Digitalisierung.
Digitalisierung birgt neue Risiken
Aber die Digitalisierung sorgt in der sensiblen Infrastruktur, von der Industrie und Verbraucher abhängen, auch für Risiken. Die Arbeit aus dem Homeoffice könnten Hacker zu Angriffen nutzen, warnt etwa Siemens-Digitalexperte Leo Simonovich. Weniger sichere Internet-Zugänge aus dem heimischen Büro heraus, das Abfischen von Daten oder einfache Fehler im ungewohnten Arbeitsumfeld bergen seiner Ansicht nach potenzielle Probleme.
Doch Alternativen bleiben den Versorgern nicht. Denn neue Herausforderungen drohen ihnen etwa bei Erneuerbaren Energien durch Online-Riesen wie Google oder durch traditionelle Konzerne wie dem Öl-Riesen BP, die sich auf diesem Feld engagieren wollen. "Wenn die Versorger nicht handeln, werden Tech-Konzerne wie Apple oder Google es tun und ihnen mit eigenen Apps Konkurrenz machen und die Kunden-Beziehungen neu definieren", sagt Ingmar Wilhelm, Chef des auf die Energie-Branche spezialisierten Daten-Startups Energisme: "Die Covid-Krise macht diese Botschaft unüberhörbar."
(Reuters)