cash.ch: Seit Jahren wird Wirecard Bilanzmanipulation vorgeworfen. Die Vorwürfe haben sich bisher nicht bestätigt, aber sie konnten auch nicht klar widerlegt werden. Warum ist das eine never-ending Story?

Mojmir Hlinka: Im Gegensatz zu vielen anderen Marktbeobachtern sehe ich den Grund dafür mehr psychologisch als rational. Wirecard ist immens gewachsen. Der Weg vom Zahlungsabwickler für Porno- und Casino-Seiten bis zu einem DAX-Konzern erfolgte zu schnell. Darunter hat die Kommunikation mit den Märkten sehr gelitten, und hier befindet sich das Unternehmen mitten in einem Lernprozess. Wirecard muss hier den Hebel ansetzen, damit es keine never-ending Story wird.

Ein Kritikpunkt ist insbesondere die Undurchsichtigkeit des Geschäfts mit Drittpartnern, vor allem in Asien. Die Umsätze seien nicht transparent, so der Vorwurf. Teilen Sie diese Kritik?

Natürlich ist die Präsentation korrekter Umsatzzahlen das oberste Gebot eines börsennotierten Unternehmens. Ich glaube, dass die Gründe für diese Unstimmigkeiten mehr in der Naivität und in den mangelhaften Prozessen dieses sehr erfolgreichen jungen Unternehmens zu suchen sind als in der vorsätzlichen Täuschung der Märkte. Sicher hat man die Grenzen der Legalität – vielleicht unbewusst – getestet. Wirecard unterschätzte aber die Macht der Medien und insbesondere einer 'Financial Times'. Der erfolgte Vertrauensverlust der Investoren war die logische Folge, die Wirecard zum Opfer der Leerverkäufer und Hedgefonds machte.

Am Donnerstag kommen die Jahresergebnisse, die von der Prüfungsgesellschaft EY attestiert werden sollen. Erwarten Sie irgendwelche bösen Überraschungen?

Die Kernfrage ist für mich: Wieso gab es diese Verzögerungen der Veröffentlichung der Testate wirklich? Die wahre Antwort liegt wohl irgendwo zwischen Corona und Problemen mit EY. Ausschliessen lässt es sich nicht, aber ich glaube nicht an eine wirklich böse Überraschung. Und damit bin ich wohl nicht allein. In den letzten Tagen haben die Leerverkäufer laufend ihre Short-Positionen reduziert. Darin liegt wohl der Hauptgrund, dass die Wirecard-Aktie die 100-Euro-Marke zurückerobert hat. Sollte die Veröffentlichung ohne jegliche 'Kratzer' erfolgen, ist in der Aktie sehr viel möglich.

2018 kratze die Aktie an der 200-Euro-Marke, bevor die 'Financial Times' ihre Vorwürfe formulierte. Derzeit dümpelt sie bei 100 Euro. Falls die Vorwürfe eines Tages mal vollständig ausgeräumt werden sollten: Wo liegt der faire Wert der Aktie?

Es ist die Vergangenheit, die auf Wirecard lastet. Wie wir aber alle wissen, bewerten die Märkte die Zukunft und die sieht bei Wirecard sehr positiv aus. Das Unternehmen ist extrem profitabel und im Branchenvergleich sehr günstig bewertet. Und Wirecard holt einen Neukunden nach dem anderen. Letzte Woche war es Stocard, diese Woche das bulgarische Fintech Payhawk und schliesslich das als 'Russlands Amazon' bezeichnete Unternehmen Wilberries mit einem Jahresumsatz von 3,1 Milliarden Euro. Wenn Wirecard aus der Vergangenheit gelernt hat und diese hinter sich lassen kann, liegt der faire Wert der Aktie weit über der momentanen Notierung.

Jüngst wurde die Macht von CEO Markus Braun beschnitten. So soll er etwa Teile des operativen Vertriebs abgeben. Welche Rolle spielt Braun bei der Glaubwürdigkeit des Unternehmens?

Eine zentrale. Er ist der Macher, der Denker und der Visionär. Für eine anhaltende Wachstumsstory des Unternehmens muss und soll er das auch bleiben. Was jedoch die Kommunikation und Compliance betrifft, muss in seinem eigenen Interesse das Unternehmen gestärkt werden. Ob Braun CEO bleibt oder – was durchaus denkbar wäre – als COO die Strategie der Firma führt, ist weniger entscheidend. Einige richtige Schritte in eine verbesserte Corporate Governance ist Braun bereits gegangen. Folgen noch weitere, sehe ich für Wirecard eine erfolgreiche Zukunft und deutlich höheren Aktienkurs.

Würden Sie Anlegern raten, jetzt in Wirecard zu investieren?

Es ist bitter zu konstatieren, dass es sich bei einem DAX-Unternehmen um ein sehr spekulatives Investment handelt. Dem ist aber so. Dennoch, ohne die Fehler des Unternehmens zu beschönigen, glich die Haltung der Medien gegenüber Wirecard einer Hexenjagd. Daran ist Wirecard nicht unschuldig, aber die Aktie wurde zu sehr abgestraft. Wir haben für Wirecard aufgrund der Unsicherheiten ein flexibles Kursziel auf 130 bis 150 Euro gesetzt. Dann muss man die Lage neu analysieren. Eine klare Voraussetzung dafür ist jedoch am Donnerstag ein gutes Resultat. Wir können einen Kauf empfehlen, jedoch ausschliesslich für stark risikoorientierte Anleger mit einem langen Atem.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

Mojmir Hlinka ist Finanz- und Anlageexperte des Schweizer Vermögensverwalters AGFIF International. Dort ist er Direktor und Leiter Relationship Management.