cash.ch: Herr Frangulidis, die Kurse an den Aktienmärkten steigen und steigen. In welcher Phase des Bullenmarktes befinden wir uns? 

Anastassios Frangulidis: Die letzte Rezession, ausgelöst durch den massiven Corona-Schock Anfang 2020, ist letzten Sommer dank der massiven Unterstützung von Fiskal- und Geldpolitik zu Ende gegangen. Nach rund einem Jahr Konjunkturerholung befinden wir uns noch immer in der Frühphase des Konjunkturzyklus. 

Wie lange noch? 

Ich stelle fest, dass dieser Zyklus viel schneller voranschreitet als Zyklen, die wir in der Vergangenheit hatten. So kurz die Rezession während des Corona-Tiefs war, so schnell könnten wir jetzt von dem "Early Cycle", also der Frühphase, zu einem "Mid Cycle" des Konjunkturzyklus gelangen. Das hat natürlich viel mit der Antwort der Wirtschaftspolitik auf die Krise zu tun. Derzeit befinden wir uns auf einem Höchst, was die globalen Wachstumserwartungen angeht. In den USA wird von den meisten Beobachtern für 2021 ein Wirtschaftswachstum zwischen fünf und acht Prozent erwartet. Dies haben wir mehrere Jahrzehnte nicht mehr gesehen. 

Sind diese hohen Ziele denn gerechtfertigt? 

Aufgrund der US-Fiskalpolitik sind sie nachvollziehbar. Aber es führt auch dazu, dass wir uns schneller als früher nach vorne bewegen. So wird sich die Produktionslücke viel schneller schliessen, als wir dies in den früheren Erholungsphasen gesehen haben. Insgesamt verläuft der gesamte Konjunkturzyklus viel dynamischer als früher. Momentan sind wir noch in der anfänglichen Hausse-Phase. Aber bis zum "Mid-Cycle", also der zweiten Phase des Konjunkturzyklus, dürfte es nicht mehr allzu lange dauern. 

Wann werden wir diesen «Mid-Cycle» erreichen und was erwartet uns dann? 

Wir haben dann eine Lage, in der nach der ersten starken Erholung die Wachstumseuphorie etwas nachlassen wird. Das Wachstum wird zwar immer noch stark sein, aber die Wachstumserwartungen werden nachzulassen beginnen. Momentan sind zum Beispiel die Einkaufsmanagerindizes auf historisch hohen Niveaus. Wenn diese beginnen, klar nach unten zu korrigieren, haben wir den "Early Cycle" hinter uns.  

Die Bewertungen an den Aktienmärkten sind derzeit hoch. Hat der Markt die ganze Erholungs-Euphorie nicht langsam eingepreist? 

Dank des starken Wirtschaftswachstums sehen wir bei den Gewinnen der Unternehmen – und das ist ja das wichtige – auch gegenüber den Konsensus-Erwartungen noch weiteres Potenzial. 

Können Sie dies näher erläutern?

Ein Beispiel: Der Markt erwartet in den USA im Jahr 2021 im Durchschnitt ein Gewinnwachstum der Unternehmen von 28 Prozent, wir erwarten etwa 35 Prozent. Auch global denken wir, dass es noch eine Weile lang positive Gewinn-Überraschungen geben kann. Daher ist auch an den Märkten noch Potenzial nach oben da. 

Die hohen Bewertungen machen Ihnen also keine Sorgen? 

Man muss sehen, dass die Kurssteigerungen an den Aktienmärkten in diesem Jahr bisher von den Gewinnen getrieben wurden. Dagegen haben wir keine Unterstützung von der Bewertungsseite mehr. Ich schätze, dass bereits im Sommer der Bewertungsbeitrag zu den Kursen klar negativ sein wird. Sowohl 2019 als auch 2020 wurde die gute Performance an den Aktienmärkten von steigenden Bewertungen getrieben, und nicht von Gewinnen. Das hatte zur Folge, dass die Kurs-Gewinn-Verhältnisse (KGV) deutlich gestiegen sind. Der Gewinn-Beitrag zu den Kurssteigerungen war in diesen Jahren hingegen sogar negativ. Doch jetzt kehrt das Ganze. Denn der Liquiditätszufluss der Notenbanken wird nicht mehr in die Finanzmärkte weitergeleitet, sondern von der Realwirtschaft beansprucht. 

Die Gewinne werden also stützen, die Bewertungen werden zunehmend belasten. Was heisst das jetzt konkret für die Märkte? 

Insgesamt führt es dazu, dass wir einen bedeutenden Teil des Anstiegs der Aktienpreise bereits gesehen haben. Das heisst nicht, dass weitere Kurssteigerungen nicht möglich wären, doch das Potenzial wird zunehmend kleiner. Der MSCI World hat dieses Jahr bereits etwa 9 Prozent zugelegt, auf Jahressicht sehe ich ein Potenzial von etwa 12 bis 15 Prozent. So gesehen haben wir die allerbeste Phase wahrscheinlich hinter uns. 

Zuletzt haben steigende Bondrenditen die Bewertungen von Aktien unter Druck gesetzt. Droht da noch mehr Gefahr? 

Vor allem Mitte Februar bis Anfang März belasteten die steigenden Renditen den Aktienmarkt. Interessanterweise hat er aber insgesamt nicht bedeutend korrigiert, wie es teilweise befürchtet wurde. Grund war, dass das Gewinnwachstum den negativen Beitrag des Anstiegs der Realverzinsung, also der Zinsbildung nach Berücksichtigung der Inflation, entschärfen konnte. Deswegen hat sich der Markt gut halten können. Solange wir in einer Phase sind, wo Optimismus da ist und die Gewinnerwartungen gut sind, kann der Markt mit steigenden Realzinsen leben. Natürlich unter der Voraussetzung, dass wir keinen massiven und schnellen Anstieg der Zinsen sehen werden. 

Wie hoch sehen Sie diese Gefahr schnell steigender Zinsen? 

Das ist wenig wahrscheinlich. Die US-Notenbank Fed kommuniziert ganz klar, dass sie ihre Politik in nächster Zeit nicht ändern wird. Im März hat die Fed betont, dass sie erst nach 2023 Leitzinsanpassungen vornehmen wird. Das war auch der Grund, warum sich die Bondrenditen in den letzten Wochen stabilisiert haben. 

Steigende Bondrenditen haben zuletzt den Lauf von Wachstums-Aktien, wie etwa Technologie-Titel, unterbrochen. Zykliker, also konjunktursensible Werte, haben im Zuge der Konjunkturerholung zuletzt ordentlich zugelegt. Setzt sich dieser «Reopening-Trade» fort? 

Interessant ist, dass wir zwei unterschiedliche Phasen der Erholung gesehen haben. Zum einen die Erholung von Ende März 2020 bis November, und jene von November bis heute. Anfangs November fanden bekanntlich die die USA-Wahlen statt und uns erreichte die Impfstoff-Nachricht von Biontech/Pfizer. In der ersten Phase haben wir praktisch keine Steigerungen bei den langfristigen Bondrenditen gesehen. Das kam den sogenannten Wachstums-Aktien zugute. Ab November stieg dann der Konjunkturoptimismus und mit ihm die Bondrenditen. Seitdem profitieren Sektoren wie Rohstoffe oder Industriewerte deutlich und mit der steileren Zinskurve wurde auch das Umfeld für Finanz-Aktien besser. Das ist typisch für die "Early-Cycle"-Phase, in der wir uns noch immer befinden.

Das heisst, die Zykliker-Rally hält noch etwas an? 

Vorerst ja. Ich würde aber, wie zuvor erwähnt, die Entwicklungen der Einkaufsmanagerindizes beobachten. Wenn diese beginnen, zu sinken, wächst die Wirtschaft zwar weiter, doch die Dynamik beginnt nachzulassen. Dann werden die defensiven Werte, die es in den letzten Quartalen schwer hatten, wieder in der Gunst der Anleger steigen. 

Angesichts der gestiegenen Realverzinsung. Wie werden sich die viel diskutierten Wachstumswerte aus dem Technologie-Bereich in Zukunft schlagen? 

Im Bezug auf den gesamten Tech-Sektor glaube ich, dass der Bereich weiter gut laufen wird. Wie gesagt, die Fed hat klar gemacht, dass sie das Zinsniveau weiter tief halten wird. 

Wir sehen global grosse unterschiedliche Geschwindigkeiten im Impf-Prozess. Die USA sind weit vorne, Europa hinkte lange hinterher, kommt jetzt aber so langsam in Fahrt. Macht dies Hoffnung? 

In Europa setzt die Konjunkturerholung im Vergleich zu den USA etwas verzögert ein. Trotzdem profitieren europäische Unternehmen bereits jetzt, weil ausserhalb Europas die Konjunktur bereits anspringt. Der europäische Aktienmarkt ist sehr zyklisch orientiert und verfügt über Firmen, die global ausgerichtet sind und davon profitieren, wenn sich woanders die Wirtschaft belebt. 

Müsste man nicht jetzt verstärkt auf den europäischen Aktienmarkt setzen? Schliesslich steht uns die Konjunktur-Erholung hierzulande so richtig erst noch bevor.

In der europäischen Industrie ist die Erholung dank der ausländischen Nachfrage bereits spürbar. Wenn durch die Aufhebung der Lockdowns die Binnennachfrage zusätzlich noch anspringt, ist es durchaus denkbar, dass insbesondere die sogenannten "Reopening"-Aktien beispielsweise aus dem Reise- und Unterhaltungssektor gut laufen werden. 

Der Schweizer Aktienmarkt hinkt wegen seiner defensiven Ausrichtung nicht nur dem US-Markt, sondern auch dem Eurostoxx 50 hinterher. Wird das im Jahr 2021 so bleiben?

Die Performance bei den kleinkapitalisierten Unternehmen in der Schweiz läuft deutlich besser als die der Schwergewichte, die den Swiss Market Index (SMI) dominieren. Diese kleineren Unternehmen sind zyklischer orientiert und in unseren Augen auch künftig interessanter für Anleger. Insgesamt waren wir lange Zeit untergewichtet im Schweizer Aktienmarkt. Jetzt gehen wir Richtung neutral, wobei wir hier mehr auf mittlere und kleinere Unternehmen setzen. Sobald wir im Konjunkturzyklus den "Mid-Cycle" erreichen, könnte der Schweizer Aktienmarkt auch insgesamt wieder besser laufen. Doch so weit sind wir noch nicht. 

Den Schweizer Aktienmarkt setzen Sie also auf «neutral». In welchen Märkten sind die derzeit übergewichtet? 

Wir setzen derzeit vor allem auf zyklische Märkte. Dafür haben wir Positionen vor allem in Europa und in Japan. Eine interessante strukturelle Story ist zudem China. Und weil wir in unser Anlageallokation allgemein bei Aktien übergewichtet sind, haben wir auch ein bedeutendes Exposure in US-Aktien. Der US-Markt macht einfach einen grossen Teil des globalen Aktienmarkts aus. 

Stichwort China, wie schätzen Sie die Risiken des dortigen Aktienmarkts ein? Neben den politischen Spannungen zwischen China und USA machte die chinesische Regierung zuletzt auch immer häufiger mit verbalen Attacken und Strafen gegen die eigenen Grosskonzerne von sich reden. 

China ist ein grosser und wichtiger Markt. Die politischen Risiken waren schon immer da und werden auch bleiben. Nichtsdestotrotz wird der Anteil Chinas am globalen Aktienmarkt langfristig immer grösser werden, entsprechend wie die Wirtschaft Chinas ja auch immer grösser wird. Strukturell entwickelt sich China schneller als die Volkswirtschaften im Westen. Wenn wir in China investieren, machen wir das breit gestreut im Aktienindex CSI 300.

Sprechen wir noch einmal über das Thema Fiskalpolitik. Die USA nimmt derzeit so viel Geld in die Hand, wie zuletzt in Kriegszeiten. Geht das gut? 

Angesichts der Geldflut gibt es das Risiko einer Überhitzung, die steigende Inflation zur Folge hätte. Zudem ist es mit Blick auf die Staatsfinanzen durchaus beunruhigend, wie stark die Schulden der USA und anderer Staaten ansteigen. Ein schneller Schuldenabbau, wie damals nach dem Zweiten Weltkrieg durch den langen Konjunkturboom möglich, ist dieses Mal nicht zu erwarten. Die Lage der Staatsfinanzen wird uns folglich sehr lange Zeit beschäftigen.

Anastassios Frangulidis ist seit 2016 Chefstratege und Leiter Multi Asset im Team Zürich bei Pictet Asset Management. Zuvor war er viele Jahre Chefökonom der Zürcher Kantonalbank (ZKB). Dort war er auch als Chefstratege für das Multi-Asset-Research verantwortlich.