Die Inflation wird sich hartnäckig halten, die Zinsen steigen und wegen der Corona-Omikron-Variante wird aus der Pandemie eine Endemie – heisst, das Virus wird sich bald zu einer "normalen" Grippe entwickeln. Dieser Mix aus "Reopening"-Trend und einem geldpolitisch restriktiveren Umfeld scheint zumindest der Markt aktuell einzupreisen. Davon profitieren derzeit Finanzwerte sowie Reise-Aktien und Zykliker. Wachstumswerte aus dem Tech- und Pharmabereich hingegen wurden zuletzt oderdentlich geprügelt.
Am Montag setzte sich der gute Lauf der Finanzwerte, die von steigenden Zinsen profitieren, weiter fort. Bank- und Versicherungs-Aktien wie UBS, Swiss Life, Zurich und sogar die leidgeprüfte Credit Suisse haben 2022 den besten Start aller SMI-Aktien hingelegt. Auch mit Reise-Titeln wie Flughafen Zürich oder Dufry haben Anlegerinnen und Anleger fast zweistellige Gewinn-Zuwächse verzeichnen können. Ebenso gefragt sind Zykliker wie Holcim, Rieter oder Swatch.
Tech-Aktien als grosse Verlierer
Ordentlich auf den Deckel bekommen hingegen Aktien, bei denen hohes zukünftiges Wachstum eingepreist ist. Ihnen fallen die (angekündigten) steigenden Zinsen momentan gehörig auf die Füsse fallen. So sind viele Überflieger aus 2021 die Verlierer der Stunde. Titel wie Sika oder Partners Group, die zuletzt zu den "Darlings" der Schweizer Börse zählten, haben es seit Anfang Jahr schwer. Auch die Aktien der gut gelaufenen und entsprechend hoch bewerteten Pharmazulieferer wie Lonza, Bachem oder Polypeptide kommen derzeit arg unter die Räder.
In den USA leidet zudem weiterhin der Technologie-Sektor. Tech-Aktien sind bereits im vergangenen Jahr stark unter Druck geraten, nachdem die Diskussion um die steigende Inflation erstmals hochgekommen war – und immer grösser wurde. Nachdem es anfangs meist nur hochgehypte Titel aus der zweiten oder dritten Reihe getroffen hatte, waren es zuletzt auch die Big-Techs, die anfingen, Risse zu zeigen.
Sind diese Trends zu Jahresbeginn nur kleine Strohfeuer oder stehen wir am Anfang einer grossen, tiefgreifenden Branchenrotation weg von Tech- und Wachstumswerten hin zu Substanzaktien (auch Value genannt) und Zyklikern? "Diese Rotation kann noch weiter gehen, falls sich die Wachstumsaussichten bessern und, noch wichtiger, die Zinsen weiter steigen", sagt Christian Gattiker, Research-Chef von Julius Bär, gegenüber cash.ch. Die Ankündigung der Fed, darüber nachzudenken, die Bilanz zu schrumpfen, zeige, dass die Notenbanken die Normalisierung der Geldpolitik beschleunigten, so Gattiker.
"Das birgt auch Risiken, doch erstmal dürften die höheren Zinsen zyklische Value-Titel beflügeln." Zudem könnten solche Bewegungen in mehreren Schüben über Wochen, wenn nicht Monate andauern, sagt Gattiker.
Growth wird es schwer haben
Auch Thomas Heller, Anlagechef der Schwyzer Kantonalbank, glaubt, dass die Branchenrotation "in der Tendenz" so weitergehen werde. Obwohl die Anleiherenditen zuletzt schon einen grossen Sprung gemacht hätten, dürften sie noch etwas weiter steigen, so Heller. "Zusammen mit der intakten Konjunktur begünstigt das Substanzwerte und Zykliker relativ zu Growth- und Tech-Titeln." Allerdings seien es dann oft doch wieder sehr unternehmensspezifische Faktoren, die den Kurs trieben, unterstreicht Heller.
"Gerade in der Schweiz war dies im vergangenen Jahr gut zu beobachten, als Titel aus demselben Sektor völlig unterschiedlich performt haben." Heller verweist in diesem Zusammenhang auf die unterschiedlichen Kursverläufe bei den Aktien von Roche-Novartis-Alcon, UBS-Credit Suisse und Richemont-Swatch.
Wie viel Zinswende ist am Markt eingepreist?
Auffällig sind die weltweit steigenden Anleihezinsen. Seit dieser Woche rentieren zehnjährige Schweizer Bundesobligationen erstmals seit Ende 2018 wieder positiv. Auch in den USA schnellten die zehnjährigen Treasuries innerhalb einer Woche von 1,5 Prozent auf fast 1,8 Prozent nach oben. Damit rentieren sie so hoch wie seit Anfang 2020 nicht mehr – kurz vor dem Corona-Crash.
Preist der Markt gerade die grosse Zinswende ein? Für Gattiker ist die Frage nur schwer zu beantworten. "Darüber 'werweissen' derzeit alle." Doch hier werde die Meinungsbildung wohl nicht in einem Sprung, sondern in mehreren Schritten stattfinden, glaubt der Research-Chef. Heller wiederum ist überzeugt, dass die kommenden Zinserhöhungen der Fed bereits vom Markt verarbeitet wurden. "Drei Zinserhöhungen der Fed in diesem Jahr und drei weitere im 2023 sind im Markt drin und keine Überraschung mehr."
Auf welche Regionen setzen?
Fragt sich noch, welche Regionen in diesem Umfeld aus Anlegersicht zu bevorzugen sind. Zuletzt heisst es vielerorts, steigende Anleiherenditen würden wegen des hohen Anteils an Wachstumswerten eher die US-Märkte belasten - und Europa (und Japan) stützen. Heller stimmt dem grundsätzlich zu, warnt aber, dass die Corona-Pandemie sowie die weniger expansive Geldpolitik potenzielle Risikofaktoren blieben, "die dann über eingetrübte Konjunkturaussichten auch auf zyklischeren Märkten lasten könnten".
Die gute Nachricht aus Schweizer Sicht: "Die defensiven Qualitäten des Schweizer Marktes könnten in diesem Umfeld zum Tragen kommen", sagt Heller.
Während der US-Aktienmarkt von Growth-Aktien dominiert werde, müsste umgekehrt Europa tatsächlich eine willkommene Alternative bieten für Value-Anleger auf der Suche nach Schnäppchen, glaubt Gattiker. "Nach einer über zehnjährigen Durststrecke gegenüber den US-Werten ist eine - mindestens zwischenzeitliche - Aufholjagd überfällig."
Dass Europa gegenüber dem US-Markt viel Aufholpotenzial hat, hörte man in den letzten Jahren regelmässig. Zu stark seien S&P 500 und Nasdaq gelaufen, zu wenig hätten im Vergleich SMI, Dax und Stoxx 50 zulegen können, so der Tenor. Eingetroffen ist dieser Schwenk bisher nicht. Doch eine weiterhin auf hohem Niveau verharrende Inflation sowie steigende Zinsen sind zwei Bedingungen, die zuvor fehlten, und diesmal tatsächlich für den europäischen Markt sprechen könnten.