Angela Merkel gilt als sehr beherrschte Kanzlerin. Aber im 16. Jahr ihrer Amtszeit platzt ihr dann doch der Kragen. Der Grund: Eine ihrer radikalsten Ideen der letzten Jahre droht zu scheitern - die Bundesagentur für Sprunginnovationen, die revolutionäre Erfindungen aufstöbern und fördern soll.

Doch der nach US-Vorbild geschaffene Inkubator für weltverändernde Technologien kämpft mit den Hürden deutscher und europäischer Bürokratie, dem Gerangel zwischen Ministerien und Parteien und dem Neid anderer Forscher. Auf dem Forschungsgipfel der Bundesregierung am 19. Mai liess Merkel ihrem Frust freien Lauf: Wenn man mit den USA und China mithalten wolle, müsse man die Jagd auf neue innovative Ideen ganz anders führen als bisher, schimpfte sie.

Tesla als Beispiel

Die Agentur von Sprunginnovationen (SPRIN-D) soll ein Defizit in der deutschen Forschungsförderung beseitigen, das die die Regierung beratende Expertenkommission Entwicklung und Innovation so beschreibt: Es wird viel geforscht - aber meistens auf Gebieten, auf denen die Industrie bereits stark ist. Neue Ideen, die Märkte völlig veränderten, würden aber verschlafen, siehe die Elektroautos von Tesla, warnte die Kommission schon vor Jahren.

Die Physikerin Merkel horchte auf. Im Frühjahr 2017 liess sie ein Konzept für eine Agentur schreiben, die genau dort ansetzt: bei der unkonventionellen, nach revolutionären Innovationen strebenden Forschung.

2018 folgte der Beschluss des deutschen Kabinetts, Ende 2019 nahm die SPRIN-D in Leipzig ihre Arbeit auf. Erste Projekte hat sie identifiziert und die Förderung läuft - ausdrücklich mit dem Ziel, dass daraus vermarktungsfähige Produkte werden. Dazu zählt etwa die Entwicklung eines Therapeutikums zur Behandlung der Alzheimer-Krankheit, die Reinigung von Gewässern von Mikroplastik durch winzig kleine Bläschen, oder ein sogenannter Analog-Rechner, der in der Theorie schneller und wesentlich weniger stromfressend ist als herkömmliche Computer.

Dazu kommen einige Projekte, über die SPRIN-D-Chef Rafael Laguna de la Vera noch nicht reden will. Nur: Merkel und Laguna beklagen beide, dass die vorhandenen Strukturen in Deutschland einen wirklichen Durchbruch verhindern. Aus dem Tiger, der mithelfen sollte, an die technologische Weltspitze zu springen, droht ein Kätzchen zu werden.

Nur Grundlagenforschung in Deutschland

Der Befund ist bitter. Denn vor allem die letzte Koalition aus CDU/CSU und SPD hatte die Förderung von Startups deutlich ausgebaut. Seit Jahren wird geklagt, dass Forscher in Deutschland zwar in der Grundlagenforschung gut sind und etwa den MP3-Player erfunden haben, der dann aber im Ausland zum erfolgreichen Produkt entwickelt wurde. Insgesamt stehen nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums nun mehr als neun Milliarden Euro zur Verfügung, um das zukünftig zu verhindern. Um Startups in den verschiedensten Wachstumsphasen zu fördern, stehen Instrumente wie der Hightech-Gründerfonds, der Tech Growth Funds, der Zukunftsfonds oder der Deeptech Future Fonds bereit. Daneben steigen die staatlichen Zuschüsse etwa für die ausseruniversitären Forschungsorganisationen kontinuierlich.

Doch die Fantasien beflügeln weiter andere wie Elon Musk in den USA mit einer Raketenentwicklung. "Es gibt ein Tal des Todes, durch das jede innovative Technologie muss, bis sie zu einem marktfähigen Produkt wird. Und in Deutschland ist dieses Tal ziemlich breit", bilanziert Laguna, selbst ein erfolgreicher Startup-Unternehmer.

Zu wenig Geld

Als "sehr deutsch" etwa bezeichnet Merkel, dass in der Koalition mit der SPD zwei Agenturen für Sprunginnovationen gegründet werden mussten - eine für die zivile und eine für die militärische Nutzung. "Das führt dazu, dass die Sprünge bisher noch ziemlich klein sind", räumt die Kanzlerin ein. "Es war nicht hilfreich, die Agentur für zivile und militärische Sprunginnovationen zu teilen – als ob man die Nutzung von Innovationen zu Beginn so abgrenzen könnte. Das schwächt beide", sagt auch der Luft- und Raumfahrtkoordinator der Bundesregierung, Thomas Jarzombek, zu Reuters.

Auch mit der finanziellen Ausstattung ist Merkel unzufrieden: Mit ihren rund 100 Millionen Euro an Mitteln pro Jahr ist SPRIN-D ein Zwerg im Vergleich zu den Riesensummen, die der restlichen Forschungslandschaft in Deutschland zur Verfügung stehen: 2019 wurden dem Statistischen Bundesamt zufolge 109,5 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung ausgegeben. Die amerikanische Defence Advanced Research Projects Agency (DARPA), das Vorbild für die deutsche Agentur, allerdings mit militärischer Anbindung, bekommt 3,5 Milliarden Dollar im Jahr.

Zur Sprunginnovation gehöre auch ein radikales Umdenken in den Rahmenbedingungen, meint Merkel. Wenn man über die gegen das Corona-Virus eingesetzte mRNA-Technologie bei Impfstoffen jubele, müsse man sehen, dass diese jahrzehntelang erforscht werden musste. "So was muss eine Sprunginnovationsagentur aushalten", sagt sie und fordert einen langen Atem.

Aber im deutschen System wacht der Bundesrechnungshof darüber, wie das Steuergeld ausgegeben wird. Das lässt die Politik vorsichtig werden. Einige bezeichnen dem Rechnungshof deshalb ketzerisch als "Buchhalter des Stillstands". Dabei meinen Experten, dass die SPRIN-D bewusst Risiken eingehe müsse. Notfalls dürften sogar neun von zehn der geförderten Projekte scheitern - wenn nur eine Neuentwicklung dabei ist, die die Welt verändert. "Wir wollen in Deutschland aber zumeist vor allem das Scheitern verhindern", beschreibt Laguna die deutsche Denkweise.

"Eigentlich wollen und sollten wir Erfindern einfach nur Geld in die Hand drücken und sagen: Macht mal." Das findet auch der CDU-Politiker Jarzombek. Nur erzeuge dieser Ansatz eben Neid und Ablehnung in einer ansonsten durchreglementierten Forschungslandschaft, in dem mit langen Anträgen um Zuschüsse gerungen werden muss. Und die Politik gerät in Erklärungsnot, wenn sie keine Erfolge vorweisen kann.

Zu viel Papierkrieg

Der Rechnungshof und die Haushälter sind aber bei weitem nicht die einzigen Bremsen. Laguna fühlt sich gefesselt durch die EU-Regeln zum Vergabe- und Beihilferecht. "Es klingt absurd: Aber wenn wir eine 100-prozentige Finanzierung machen wollen, dann müssen wir eine 100-prozentige Tochter von SPRIN-D gründen, die dann ein Darlehen des Bundes bekommt", beschreibt er eine der bürokratischen Hürden. Die Crux: Ohne die EU geht es nicht. "Letztlich brauchen wir auch bei Sprunginnovationen eine europäische Lösung", sagt der Staatssekretär Wolf-Dieter Lukas im Bundesforschungsministerium zu Reuters.

"Denn die USA und China verfügen über sehr grosse Binnenmärkte – den haben wir aber nur mit der EU und können uns nicht auf Deutschland beschränken." Laguna pflichtet ihm bei. Aber nicht einmal eine von Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron angedachte deutsch-französische Agentur kam zustande, weil sich Paris und Berlin nicht einig wurden. Auf EU-Ebene mit 27 Mitgliedsstaaten würde alles noch komplizierter. Auf der anderen Seite haben die aus der EU ausgetretenen Briten mit ARIA im vorigen Jahr eine eigene Agentur für Sprunginnovation gegründet.

Die Regierung müsse aber auch an anderen Stellen umdenken: Wenn man künftig eigene Innovationen entwickeln wolle, müsse der Staat viel stärker als Käufer neuer Produkte auftreten, fordert SPRIN-D-Chef Laguna. "Der Staat ist bei uns immerhin der mit Abstand grösste Auftraggeber." Wenn etwa eine europäische Alternative zu Microsoft-Office entwickelt werden solle, müsse man nicht nur Geld für die Entwicklung auf den Tisch legen, sondern gleichzeitig dafür sorgen, dass Kommunen, Länder und Bund gleich mehrere Millionen Lizenzen bestellten, beschreibt er ein Beispiel. "Elon Musk hatte schon Milliardenaufträge der Nasa, bevor irgendetwas zu sehen war", sagte er zur staatlich geförderten Raketenentwicklung des US-Milliardärs.

In Deutschland klappe dies nur in einer grossen Krise, wenn etwa der Staat plötzlich Corona-Impfstoffe vor deren Zulassung kaufe. Dies hat etwa dem mRNA-Impfstoff-Hersteller Biontech einen Schub gegeben.

Kampf der Forschungskonzepte

Dazu kommt, dass hinter den Kulissen ein Kampf der Konzepte und Ministerien tobt. Denn mit der blossen Existenz von SPRIN-D und seinem anderen Finanzierungsansatz gerät die bisherige Forschungswelt in einen Verteidigungsmodus. "Es gibt schon die Angst der klassischen Forschungsförderer, dass sich herausstellen könnte, dass die vielen Milliarden, die in die bisherigen Institutionen gehen, vielleicht nicht effizient eingesetzt werden", meint etwa der im Wirtschaftsministerium angesiedelte Luft- und Raumfahrtkoordinator Jarzombek. Er sieht einen tiefgreifenden Machtkampf in der Forschungspolitik zwischen denen, die "im Elfenbeinturm der Wissenschaft" bleiben und denen, die neue Produkte und Dienste auf den Markt bringen wollten. Dieser Zwist habe schon die Entwicklung eines deutschen Quantencomputers verzögert.

Universitäten gelten als Teil des Problems, weil sie nicht systematisch die Gründung von Firmen zur kommerziellen Nutzung von Forschungserkenntnissen fördern. "Grundlagen- und Anwendungsforschung sind zu stark voneinander getrennt. Im deutschen Wissenschaftsbetrieb wird nur an wenigen Stellen systematisch Wert auf Ausgründung gelegt", beklagt Laguna. Eine weitere Bremse an den Hochschulen hat der Staat selbst eingebaut: 2002 kippte die rotgrüne Regierung das sogenannte Hochschullehrer-Privileg - die Rechte für Neuentwicklungen wurden auf die Hochschulen übertragen, die sie aber kaum nutzen. Nach Informationen von Reuters wird deshalb in der Bundesregierung nachgedacht, wieder ein "Gründungsprivileg" einzuführen, bei dem Hochschul-Mitarbeiter die Verwertungsrechte ihrer Erfindungen behalten.

Dazu passt, dass Laguna den Erfindern bei den von SPRIN-D ausgewählten Projekten die Rechte möglichst lassen will. "Die Gründerinnen und Gründer brauchen vor allem Freiheit. Deshalb ist übrigens auch wichtig, dass sie bei Ausgründungen genügend Anteile bekommen, um nicht nach den ersten Finanzierungsrunden die Kontrolle über ihre Projekten verlieren", mahnt auch Luftfahrtkoordinator Jarzombek.

Gerangel der Ministerien

Freiheit heisst aber auch Unabhängigkeit von politischen Einflüssen. "Man kann sich schon fragen, ob die Agentur genug Beinfreiheit hat", sagt Jarzombek. Die efi-Expertenkommission empfiehlt der Bundesregierung "nachdrücklich", dass die Geschäftsleitung der Agentur "ein Höchstmass an Unabhängigkeit von politischer Steuerung und Ressortdenken" erhalten sollte. Bisher sitzen im Aussichtsrat Vertreter von Wirtschafts-, Forschungs- und Finanzministerium sowie ein Vertreter des Bundestages. Da ist ein Interessengerangel programmiert.

Die Union will in der nächsten Legislaturperiode deshalb ein Gesetz für eine grössere Unabhängigkeit durchsetzen. "Ich setze darauf, dass FDP wie auch Grüne dabei in der nächsten Legislaturperiode offener sind als die SPD", sagt CDU-Politiker Jarzombek, der im Wirtschaftsministerium auch Beauftragter für die Digitale Wirtschaft und Startups ist.

Im Forschungsministerium pocht man darauf, dass die Agentur nur ein Rädchen im System der Innovationsförderung in Deutschland ist. "SPRIN-D ist eine Ergänzung unserer Fördermöglichkeiten, aber eben nur ein Element, um Innovationen aus der Forschung heraus zu befördern", relativiert Staatssekretär Lukas die Bedeutung. Er wehrt sich gegen den Eindruck, neue Ideen könnten nur durch die Agentur entstehen und verweist auf die Flut an Innovationen durch die herkömmliche Forschung. Tatsächlich wurde Biontech lange durch das Forschungsministerium gefördert.

Und noch eine Konfliktlinie macht Lukas auf: "Die Aufgabe von SPRIN-D kann nicht sein, sich in bestehende Unternehmen einzukaufen. Die Grundidee ist, dass Innovationsmanager wahrlich neue, potenziell revolutionäre Ideen in den Laboren der Forschungseinrichtungen aufspüren." Sobald sich private Geldgeber interessierten, sei die Aufgabe der Agentur eigentlich beendet. Dagegen hat Agentur-Chef Laguna nichts gegen privates Kapital schon zu Beginn. "Das gilt ja auch als Qualitätsmerkmal und erleichtert später weitere Entwicklungen. Wenn SPRIN-D einsteigt, fällt es übrigens deutlich leichter, privates Geld hereinzuholen. Denn wenn wir ein Projekt übernehmen, dann wissen Geldgeber, dass es eine harte Vorprüfung gegeben hat."

Aufgeben will Laguna trotz der teilweise ernüchternden Startphase nicht. Aber er warnt vor einer anderen gefährlichen Hürde in Deutschland: negativem Denken. "Wir müssen vor allem aufhören, in Deutschland alles schlecht zu reden", sagt er und verweist auf den Erfolg der mRNA-Technologie. "Wir sehen immer nur die Weltuntergänge und Umweltkatastrophen, nicht die Erfolge. Das betrifft übrigens auch die Medien."

(Reuters/cash)