cash.ch: Der russische Angriff auf die Ukraine am vergangenen Donnerstag hat trotz vieler Vorzeichen die Welt und die Finanzmärkte überrumpelt. Haben Sie über die letzten Tage Ihre Einschätzungen geändert?
Matthias Geissbühler: Bei der makroökonomischen Sicht sind die steigenden Rohstoffpreise ein Thema. Dies wird gewisse Auswirkungen auf die Inflation haben. Unsere Inflationsprognose für die Eurozone von 4 Prozent und von 5,5 Prozent für die USA bestand aber schon vor der Eskalation der Ukraine-Krise. Beim BIP-Wachstum rechnen wir, dass der Konflikt das Wachstum der Weltwirtschaft mit 0,1 bis 0,5 Prozentpunkten belasten wird - je nachdem, wie lange der Konflikt beziehungsweise die Sanktionen gegen Russland und die hohen Rohstoffpreise andauern werden. Unsere Wachstumsprognose von bisher 3,9 Prozent, jetzt vielleicht eher 3,5 Prozent, lag schon vor der Krise unter dem Konsens. Eine Rezession bedeutet dies aber nicht. Der Basis-Effekt der Coronapandemie wirkt noch immer.
Bis letzte Woche waren das beherrschende Thema an den Märkten die Fed-Zinsen. Wird der Konflikt und dessen weltwirtschaftliche Auswirkungen den Zins-Fahrplan der US-Notenbank Fed beeinflussen?
Wir gehen weiterhin davon aus, dass die Fed am 16. März einen Zinsschritt um 25 Basispunkte vornehmen wird. Die Wahrscheinlichkeit von einem 50-Basispunkte-Schritt hat der Markt inzwischen ausgepreist. Die Fed ist 'behind the curve', was die Inflation angelangt. Diese läuft aus dem Ruder, und die USA haben de facto Vollbeschäftigung: Die Grundlage für eine extrem lockere, auf einem Notfall wie der Pandemie basierenden Geldpolitik besteht weniger und weniger. Wir gehen aber auch davon aus, dass es dieses Jahr nicht zu sechs oder sieben Zinsschritten kommen wird. Wir rechnen eher mit vier.
Ist denkbar, dass der Ukraine-Konflikt eine Auswirkung auf die Anzahl Zinsschritte hat?
Der Hauptgrund, dass wir eine sanftere Gangart der Fed erwarten, ist die Abhängigkeit der Finanzmärkte von der Geldpolitik. Eine zu starke Straffung könnte zu einem 'Reload' des Taper Tantrum von 2013 führen. Aber auch der Ukraine-Konflikt dürfte dazu beitragen, dass die Zinsschritte weniger schnell erfolgen als noch vor kurzem gedacht. Spannend wird zu beobachten sein, wie sich die Zinskurve entwickelt. Die Flucht in sichere Häfen wegen des Konflikts hat die Zinskurve bei den US-Treasuries abflachen lassen. Sollte die Zinskurve bei den US-Staatsanleihen im Lauf des Jahres gar invers werden, wäre die Fed sicherlich veranlasst, langsamer vorzugehen. Bis im Sommer werden wir einige Zinsschritte sehen, dann aber könnte eine neue Standortbeurteilung der Fed folgen.
Die Sanktionen westlicher Länder und nun auch der Schweiz - die deutlich umfassender ausfallen als noch vor wenigen Tagen gedacht - dürften auch im Westen spürbar sein. Aber könnten sie den Konflikt dank wirtschaftlicher Mittel auch verkürzen?
Hätte Wladimir Putin gewusst, wie ernsthaft diese Sanktionen jetzt sind: Ich bin mir nicht sicher, ob er diesen Angriff dann gewagt hätte. Für Russland sind diese Sanktionen eine enorme Blockade, denn man schöpft wirklich fast alle Mittel aus. Putins Überlegung dürfte gewesen sein, dass er mit Devisen- und Goldreserven von um die 600 Milliarden Dollar einen Handelskonflikt für eine gewisse Zeit durchhalten könnte. Dass nun verhindert wird, dass die russische Zentralbank auf ihre teilweise in Dollar denominierten Reserven zugreifen kann, ist ein Game-Changer. Die Zinserhöhung der Notenbank zur Stützung des Rubels auf 20 Prozent hat nichts genützt.
Was für Folgen haben die Sanktionen für den Westen?
Die ursprünglich angedachten Sanktionen hätten den Westen nur begrenzt belastet. Bei der EU oder der Schweiz sprechen wir je nach Land von 1 bis 2 Prozent Exportanteil von Russland. Was mir mehr Sorgen macht, ist der Ausschluss russischer Banken aus Swift. Eine gerechtfertigte, aber auch harte Massnahme, bei der wir noch wenig Überblick darüber haben, was sie für das globale Finanzsystem bedeutet. Wenn Finanzströme oder Zahlungen nicht mehr richtig laufen, besteht ein Risiko, dass das Bankensystem in Schieflage geraten könnte.
Ein Analyst sprach am Montagmorgen nach dem Swift-Ausschluss Russlands, der am Wochenende entschieden wurde, von einer möglicherweise mit dem Kollaps von Lehman Brothers 2008 vergleichbaren Situation. Zu Recht?
Ich würde nicht gerade von einem Lehman-Moment sprechen. Der Swift-Ausschluss Russlands ist ein richtiger, aber auch riskanter Schritt. Würde diese Sanktion auf mehr Banken ausgeweitet werden als bisher bekannt, könnten Finanzstabilitäts-Risiken auftreten, die dann wieder die Notenbanken als 'lender of last resort' auf den Plan rufen würden. Diese müssten dann Liquidität bereitstellen. Genau abschätzen lässt sich dies alles noch nicht, aber man muss es im Auge behalten.
Ist der abrupte Wertverfall des Rubels und der Absturz der russischen Wirtschaft ein auf Russland begrenztes oder durchaus ein weltkonjunkturelles Problem?
Es wird sicherlich gewisse Auswirkungen bei Schwellenländer-Bonds geben, die aber nicht auf das Finanzsystem durchschlagen. Der Rubel ist primär für Russland wichtig. Für die russische Bevölkerung werden die Sanktionen massive Auswirkungen haben.
Welche Folgen sehen Sie für den Aktienmarkt?
Bei den Ereignissen von vergangener Woche hat aus Sicht des Marktes überrascht, wie sehr der Konflikt eskaliert ist. Der Markt scheint aber langsam einen Boden zu finden. Wir sind nicht mehr allzu weit von einer Bodenfindung entfernt. Der Aktienmarkt könnte noch einmal um 5 Prozent fallen, wir erwarten aber nach wie vor keinen Bärenmarkt in den breiten Indizes in Europa oder der Schweiz. Die Einpreisung der neuen Situation findet statt.
Wie sollen sich Anlegerinnen und Anleger jetzt positionieren?
Man ist schlecht beraten, wenn man auf solche Ereignisse panisch reagiert. Kriegerische Ereignisse lösen vor allem in der kurzen Frist Volatilität aus. Wir sind bei Aktien im Januar untergewichtet ins Jahr gestartet, dies im Hinblick auf die geldpolitische Trendwende und die hohen Bewertungen. Inzwischen haben wir die Aktienquote 'neutralisiert'. Chancen und Risiken sind nach der starken Korrektur aus unserer Sicht momentan ausgewogen. Bei den USA sind wir wegen der anstehenden Zinswende untergewichtet. Ein Übergewicht haben wir allerdings beim Schweizer Aktienmarkt. Der Schweizer Aktienmarkt dürfte sich aufgrund seiner defensiven Qualitäten relativ betrachtet besser halten.
Das Russland-Exposure von Schweizer Unternehmen ist bis auf wenige Ausnahmen gering. Aber sehen Sie noch Probleme für Bank-Aktien, beispielsweise wegen Swift?
Wir betrachten die Schweizer Grossbanken UBS und Credit Suisse schon seit Jahren für Langfristanleger als nicht-investierbar. Grund sind die permanenten Rechtsfälle, Abschreiber und übrigen aussergewöhnlichen Belastungen, die offenbar zum Geschäftsmodell dieser Grossbanken gehören. Der Swift-Ausschluss Russlands bringt jetzt nur noch einen zusätzlichen Unsicherheitsfaktor ins Bankensystem.
Wie ist es mit den anderen Banken?
Die Schweizer Kantonalbanken werden relativ wenig betroffen sein, bei den kotierten Privatbanken Julius Bär oder Vontobel hingegen ist auch eine gewisse Vorsicht geboten. Diese haben Russland-Kunden, die Lombard-Kredite zum Teil mit russischen Bonds oder Aktien besichert haben. Daher kann es nun zu Margin Calls und Wertberichtigungen kommen. Wenn Finanzaktien, dann lieber Versicherer wie Zurich oder Swiss Life mit ihren attraktiven Dividendenrenditen. Diese werden vom Konflikt weniger tangiert sein.
Gold, andere Rohstoffe oder Energieträger sind in den vergangenen Monaten als Hedge gegen die Inflation angepriesen worden. Ist dies durch die Volatilität nun gefährdet worden?
Rohstoffe können weiterhin als Inflationsschutz dienen. Das Problem ist, dass man oft über Futures in Rohstoffe investiert ist, und da hat man als Privatanlegerin oder Privatanleger über die Länge gesehen Rollverluste, die auf Kosten der Rendite gehen und ein entsprechendes Investment langfristig eher unattraktiv machen. Ausserdem widersprechen Rohstoff-Anlagen mehr und mehr der Nachhaltigkeits-Philosophie.
Dann eher Gold?
Wir empfehlen unseren Kunden immer noch Gold, wo wir leicht übergewichtet sind. Derzeit haben wir quer über die Kundenportfolios eine Goldquote von 6 Prozent. Als Krisen- und Inflationsschutz ist Gold attraktiv. Der Goldpreis könnte bei einer anhaltenden Eskalation gar wieder in Richtung 2000 Dollar pro Unze steigen. Dies ist im Vergleich zum aktuellen Preis zwar nicht mehr viel, aber allemal eine gute Absicherung des Portfolios.