Normalerweise tagen die rund 3'000 Delegierten des Nationalen Volkskongresses NVK (Parlament) und die rund 1'500 Vertreter der Politischen Konsultativ-Konferenz (Beratergremium) einmal im Jahr anfangs März für zwei Wochen. In den Medien und im Volksmund werden die Treffen kurz als die "zwei Sessionen" bezeichnet. Der 250 Mitglieder zählende Ständige Ausschuss des Volkskongresses besorgt die vom Plenum in die Wege geleiteten legislativen Geschäft das Jahr über.

Wegen der Corona-Epidemie wurde das Powwow der mächtigen Mandarine in der Grossen Halle des Volkes am Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen in Peking um elf Woche verschoben und verkürzt. Im Westen gilt die politische Zusammenkunft als Ja-Sager-, als Schein-Parlament und als «Feigenblatt der Demokratie».

Zu Unrecht, denn es wird sehr wohl debattiert, in Arbeitsgruppen der Provinzen durchaus auch kontrovers. Die Regierung, beziehungsweise die allmächtige Kommunistische Partei weiss dann, woher im Riesenreich der Wind bläst. Die Zielvorgaben der Partei werden dann, allenfalls mit wenigen Gegenstimmen, verabschiedet.

Harmonie

Für die kontinuierliche Reform und das soziale Umfeld garantiert das Stabilität und – ganz konfuzianisch – eine gewisse Harmonie. Schon der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping hat – das Chaos des Grossen Sprungs nach vorne (1958-61) und der Grossen Proletarischen Kulturrevolution (1966-76) vor Augen – Stabilität als Voraussetzung für wirtschaftlichen Entwicklung und für das Wohlergehen des Volkes erkannt. Das war auch der Grund, warum Deng Anfang Juni 1989 die Armee aufmarschieren und die Proteste der Arbeiter, Studenten, Angestellten unterdrücken liess.

Seit dem Parteitag von 2007 unter dem damaligen Staats- und Parteichef Hu Jintao ist auch das konfuzianische Prinzip der Harmonie in der Parteiverfassung verankert. Diese Kontinuität zeigte sich jetzt deutlich wieder an der dritten Session des 13. Nationalen Volkskongresses.

China hat bei der Bekämpfung des neuartigen Corona-Virus gut abgeschnitten. Zwar kam es in der zweiten Hälfte Dezember, als das Virus noch neu und kaum fassbar war zu Verzögerungen und zur Massregelung von Ärzten. Bereits am 31. Dezember jedoch wurde die Weltgesundheitsorganisation WHO informiert, am 7. Januar die Gen-Seqünz für die internationale Wissenschaft freigegeben und am 24. Januar die Stilllegung der Millionenmetropole Wuhan und der Provinz Hubei veranlasst. Die Welt und zumal Amerika und Europa waren also früh gewarnt. US-Präsident Trump brauchte dann zehn Wochen und Grossbritanniens Premier Johnson acht Wochen, bis der Ernst der Lage erkannt worden ist.

Abrupte Entscheide

Auch in der Schweiz reagierte man langsam. Am World Economic Forum im Januar noch schwadronierte Gesundheitsminister Alain Berset überheblich, dass die Schweiz "gut vorbereitet" sei. Wie wir wissen, war die Schweiz – trotz Hunderten von Beamten im Bundesamt für Gesundheit und trotz Epidemie-Gesetz – schlecht vorbereitet. Es fehlten nach kurzer Zeit Masken, Desinfektionsmittel, ja sogar Medikamente. Es folgte eine Politik der abrupten Entscheide. Die Medien stimmten, meist unkritisch, in das behördliche Narrativ ein.

Virologen und Epidemieologen – unter anderem renommierte Professoren und Klinik-Vorsteher notabene – prognostizierten bis Ende Juni in der Schweiz 30'000, 60'000, ja 100'000 Corona-Todesopfer. Die auf mathematischen Modellen basierenden Vorhersagen sind so zuverlässig wie etwa drei- bis fünfmonatige Wetterprognosen.

Es kann also eintreffen oder auch nicht. Doch kein relativierendes Wort, auch nicht bei dem von Steuergeldern gut bezahlten Bundesarzt Koch, der von den Medien zur Kultfigur hochgejubelt worden ist. Doch in der Schweiz genauso gut wie in Europa und vor allem in den USA wird nicht das eigene Handeln und Versagen hinterfragt, sondern mit dem moralischen Zeigefinger auf China gewiesen. Premierminister Li Keqiang wies gelassen die "Mentalität des Kalten Krieges" - offensichtlich aus Amerika – zurück, sprach sich für internationale Zusammenarbeit aus und sagte breite Unterstützung bei der wissenschaftlichen Ursachenforschung zum Corona-Virus zu.

«Herausforderungen wie nie zuvor»

Im Mittelpunkt des Rechenschaftsberichts von Premier Li Keqiang sowie der Debatten im Plenum und den Arbeitsgruppen stand eindeutig die Wirtschaft. Chinas Wirtschaftsleistung im ersten Quartal sank um satte 6,8 Prozent. Im zweiten Quartal könnte es erstmals seit 1976 zu einer technischen Rezession kommen. Die Wachstumsaussichten für das ganze Jahr sind durchzogen.

Chinesische und westliche Ökonomen rechnen noch mit einem Wachstum des Brutto-Inlandprodukts von einem bis 2,5 Prozent. Die wirtschaftliche Erholung der Produktion ist bis Ende Mai gut angelaufen, allerdings hat sich die Nachfrage noch immer nicht erholt.

Premier Li rechnet ebenfalls mit einem geringen Jahreswachstum, glaubt aber, dass die beiden grossen Jahres-Ziele – Sieg über die Armut und Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand – trotzdem erreichbar seien. Zum ersten Mal jedoch seit Beginn der Reformjahre gab es von einem Premier keine Vorgaben, denn es gebe, so Li, "Herausforderungen wie nie zuvor". Li Keqiang fügte hinzu: "Wir haben kein spezifisches Ziel für das wirtschaftliche Wachstum in diesem Jahr gesetzt. Dies, weil unser Land sich Faktoren gegenübersieht, deren Entwicklung schwierig vorauszusagen ist. Durch die Covid-19-Pandemie gibt es grosse Unsicherheiten im weltwirtschaftlichen Umfeld". Auch Staats- und Parteichef Xi Jinping sprach von einer "Entwicklung in einer unstabilen und unsicheren Welt".

Zielgerichtetes Hilfspaket

Regierung und Partei haben deshalb ein Massnahmepaket von umgerechnet rund 600 Milliarden Dollar geschnürt, das im Vergleich zur globalen Finanzkrise 2008 weniger aggressiv dafür zielgerichteter ist. Die allgemeine Devise heisst Gürtel enger schnallen, Vertraün in die eigenen Entwicklungs-Fähigkeiten sowie Konzentration auf digitale Ökonomie.

Die Schaffung von Arbeitsplätzen hat, so Premier Li vor dem Volkskongress, oberste Priorität. Weitere Schwerpunkte: Sicherung der elementaren Lebensgrundlagen des Volkes, Ernährungs- und Energiesicherheit, Stabilität der Industrie und der Lieferketten sowie das Vertrauen in das eigene System, da heisst, "die Vorteile des Sozialismus chinesischer Prägung".

In der internationalen Arena schliesslich, so Premier Li, sei Multilateralismus der entscheidende Punkt. Ein Budgetdefizit von mindesten3,6 Prozent werde zudem nötig sein sowie Steürerleichterungen von umgerechnet mindesten 350 Milliarden Dollar. Parteichef Xi Jinping skizzierte wohl in Anlehnung des nächsten, 14. Fünfjahresplans (2021-25) einen neün Entwicklungsplan: "In Zukunft müssen wir die Inland-Nachfrage als Ausgangspunkt nehmen, während wir die Schaffung eines kompletten heimischen Konsummarktes beschleunigen. Gleichzeitig müssen wir Innovationen in Wissenschaft, Technologie und andern Bereichen fördern". Aber im Zeichen des Freihandels und des Multilateralismus seien auch internationale Investoren hochwillkommen, denn China sei ein "enormer Markt".

Hong-Kong-Gesetz ist rechtens

In den westlichen Medien hat das wirtschaftlich zentrale Thema des Volkskongresses keine Schlagzeilen gemacht, dafür umso mehr ein Gesetz zur nationalen Sicherheit für Hong Kong. Es wurde vom Volkskongress verabschiedet und wird nun vermutlich innerhalb von wenigen Monaten vom Ständigen NVK-Ausschuss in ein detailliertes Gesetz gegossen und danach der Hongkonger Basic Law – dem Mini-Grundgesetz der ehemaligen britischen Kronkolonie – angehängt.

Das Prinzip "Ein Land – Zwei Systeme" sowie die "hohe Autonomie für Hongkong" werde damit, so US-Aussenminister Pompeo alsogleich, ausgehebelt. In Kanada, Australien und Europa erhielt er Unterstützung.

Das Sicherheitsgesetz für Hong Kong freilich ist sowohl nach der Basic Law als auch nach der chinesischen Verfassung rechtens. Bereits 2003 versuchte Hong Kong, selbst ein solches, von der Basic Law vorgeschriebenes Gesetz zu erlassen, verzichtete dann aber wegen Grossdemonstrationen darauf. 23 Jahre nach der Rückkehr zu China hatte mithin Hong Kong die verfassungsmässige Verpflichtung noch immer nicht erfüllt.

Im Sicherheitsgesetz zur nationalen Sicherheit geht es um Loslösung, Abspaltung, Aufruhr und Subversion sowie um Diebstahl von Staatsgeheimnissen. Das Prinzip "Ein Land – Zwei Systeme" und "hohe Autonomie" für Hong Kong, so Premier Li Keqiang sei, in keiner Weise betroffen. Die chinesische Sonderverwaltungszone Macao hat ein solches Sicherheitsgesetz 2009  bereits selbst erlassen. Die Freiheitsrechte und die hohe Autonomie nach dem Prinzip "Ein Land – Zwei Systeme" sind in der ehemaligen portugiesischen Kolonie sind in den letzten zwölf Jahren intakt geblieben und nie auch nur im Ansatz von Peking angetastet worden.

«Demokratiebewegung»: Gewalttätige Chaoten

In der Tat, China hat sich seit der Rückkehr Hong Kongs zum "Mutterland" peinlich genau an den Buchstaben und Geist der Basic Law und der chinesischen Verfassung gehalten. In der ehemaligen britischen Kolonie gibt es nach wie vor eine unabhängige Justiz sowie Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Die Demonstrationen der letzten Tage und zumal der vielen Monate vor der Corona-Epidemie sind dafür lebendiger Beweis.

Was allerdings in Hongkong – wie in Zürich, Bern, Berlin oder Washington D.C. – nicht erlaubt ist, sind gewaltbereite Chaoten, welche Ladengeschäfte zerstören und plündern, den öffentlichen und privaten  Verkehr während Tagen und Wochen lahmlegen und mit Eisenstangen und Molotow-Cocktails gegen die Polizei vorgehen.

In den meisten westlichen Medien aber wird vor allem das Vorgehen der Polizei kritisiert. Man stelle sich nur vor, die Hongkonger Polizisten setzen tatsächlich Tränengas, Pfefferschrot und, ganz schlimm, sogar Wasserwerfer gegen den gewalttrunkenen Mob ein. Wäre in Zürich bei Zerstörung und Plünderung von Geschäften und Lahmlegung des privaten und öffentlichen Verkehrs absolut unmöglich? Eben.

Journalisten und Korrespondenten erwähnen jedoch, wenn überhaupt, allenfalls am Rande die Gewalt der Demonstranten. Schliesslich werden sie ja als Kämpfer einer "Demokratiebewegung" wahrgenommen und hochgelobt. Nicht selten äussern sich gewaltbereite Demonstranten auch für die Loslösung Hong Kongs von China. Im Übrigen: In den westlichen Medien war auch nirgendwo zu lesen, dass über 1,1 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen von Hong Kong eine Petition zur Unterstützung des Sicherheitsgesetz' unterzeichnet haben.

Eurozentrismus

US-Präsident Trump, Aussenminister Pompeo sowie Politiker, Experten und Journalisten in Amerika, Australien und Europa müssten langsam zur Kenntnis nehmen, dass Hong Kong integraler Bestandteil der Volksrepublik China ist. Peking und Hong Kong verbitten sich jede Einmischung aus dem Ausland, vor allem eine Oberaufsicht durch den amerikanischen Kongress.

Schliesslich muss man sich im eurozentrischen Westen nach 500 Jahren kolonialer und imperialistischer Vorherrschaft langsam damit abfinden, dass das 21. Jahrhundert multipolar verfasst sein wird mit vielen nichtwestlichen Ländern und zumal mit einem erstarkten China. Es gibt überdies nicht nur einen, den westlichen Entwicklungsweg, wie viele noch immer in Europa und Amerika zu glauben wissen.

Schon vor fast fünfzig Jahren hat der französische Sinologe Jacques Gernet in seinem Werk "Le Monde chinois" darauf hingewiesen: "Das freie Unternehmertum und die liberale Demokratie sind das Ergebnis einer Entwicklung, die den westlichen Nationen eigen ist. Wer glaubt, dass alle Gesellschaften notwendigerweise die gleichen Etappen einer linearen Evolution durchmachen müssen, deren Modell vom Westen ein für allemal vorgegeben worden sei, verkennt die Vielfalt der Zivilisationen und ihren spezifischen Charakter".