Bis vor Kurzem galt eine klare Regel: Schuldner zahlen ihren Gläubigern Zinsen für das geliehene Geld. Diese Grundannahme der Wirtschaft ist im Jahr 2019 in Frage gestellt. Staatsanleihen bringen im Niedrigzinsumfeld oftmals nur noch negative Renditen. So sind etwa sämtliche Bundesobligationen der Eidgenossenschaft negativ verzinst.

"Man zahlt dem Bund pro Jahr -0.28 Prozent, damit man ihm bis 2064 Kredit geben darf", fasst Marc Brütsch, Chefökonom beim Lebensversicherer Swiss Life, die seltsame Situation auf Twitter zusammen. 

 

 

Doch nicht nur die Schweizerische Nationalbank (SNB) sorgt für negative Renditen auf Obligationen, auch in Deutschland oder den Niederlanden liegt die gesamte Zinsstrukturkurve im negativen Bereich. Viele weitere Länder bezahlen nur noch auf sehr langlaufende Anleihen einen minimalen Zins.

Zwar sind Staatsanleihen mit negativer Rendite kein völlig neues Phänomen. Bereits 2015, als die Europäische Zentralbank mit einem gross angelegten Programm Anleihenkäufe betrieb ("Quantitative Easing") gab es auf 40 Prozent der Staatsanleihen auf dem Kontinent negative Zinsen. Doch bis November 2018 hatten sich die Renditen der meisten europäischen Anleihen wieder in den positiven Bereich gedreht. Erst 2019 kam es zur neuerlichen Hausse der negativ verzinsten Schulden.

 

 
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Dass Regierungen und sogar Firmen langlaufende Anleihen mit negativen Renditen überhaupt verkaufen können, hat verschiedene Gründe. So werden Staatsanleihen wie Aktien an der Börse gehandelt. Der Kurs verläuft in die entgegengesetzte Richtung der Rendite. Es besteht also die Möglichkeit des Wiederverkaufs zu einem höheren Preis.

Zudem werden Banken in Europa und der Schweiz für die Aufbewahrung ihres Kapitals mit einem Einlagezins belegt. Wenn die SNB also einen Zins von -0.75 Prozent auf Giroguthaben verlangt, scheint ein Zins von -0.562 Prozent pro Jahr auf eine Bundesobligation mit einer Laufzeit von 20 Jahren gar nicht mehr schlecht.

Unerreichbare Inflationsziele

Der aktuelle Boom negativ verzinster Anleihen – auch mit sehr langer Laufzeit – zeigt noch etwas anderes: Die niedrigen Inflationserwartungen der Marktteilnehmer. Denn Zinsen sind unter anderem als Kompensation gedacht, weil Geld normalerweise durch die Inflation an Wert verliert. In einem deflationären Umfeld mit fallenden Preisen könnten indes 100 Franken in zehn Jahren mehr wert sein als heute. Wenn es auch in Europa zu einer langjährigen Deflation wie beispielsweise in Japan kommt, würden sich die negativen Renditen am Ende sogar auszahlen.

Die abgebrochene Zinswende der US-Notenbank Federal Reserve hat den negativ verzinsten Staatsanleihen einen grossen Schub verliehen, weil sie beweist, dass die Inflationsziele der Zentralbanken auch bei einer boomenden Wirtschaft nur sehr schwer zu erreichen sind. Es besteht sogar die Aussicht, dass die demographische Entwicklung im Westen die Inflation dauerhaft herunterdrücken wird, weil der Anteil der arbeitenden Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung abnimmt und damit auch der Konsum sinkt, der die Preise in die Höhe treiben könnte.

Diese Überlegungen haben den Marktwert der globalen Schulden mit negativer Rendite von 6,4 Billionen Dollar im Oktober 2018 auf 15,3 Billionen Dollar in diesem August getrieben.

 

 
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Am Tiefzinsumfeld, das den niedrigen Renditen auf dem Anleihenmarkt zugrunde liegt, wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern. Im Gegenteil: Ende Juli hat die Fed den Leitzins gesenkt und damit die Ende 2015 begonnene Straffung der Geldpolitik vorzeitig abgebrochen. Die Europäische Zentralbankdenkt derweil laut über tiefere Zinsen und eine Neuauflage der Anleihenkäufe nach und SNB-Chef Thomas Jordan hat klargestellt, dass er bei Bedarf weitere Zinssenkungen durchziehen könne und werde. Gemäss einer Umfrage der Wirtschaftsagentur Bloomberg bei verschiedenen Schweizer Banken erwarten einige Institute bereits im September eine weitere Zinssenkung um 25 Basispunkte auf -1 Prozent.

Eine Niedrigzinsphase über Jahre oder Jahrzehnte ist in den reichen Ländern kein unmögliches Szenario. Inzwischen scheint es nur noch eine Frage der Zeit, bis selbst der grösste Schuldenmacher unter den Industriestaaten, die USA, seine Gläubiger mit negativen Zinsen belegt. Die neue Realität der Weltwirtschaft verkehrt alte ökonomische Gewissheiten ins Gegenteil.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf handelszeitung.ch unter dem Titel «Die Schweiz kriegt für ihre Schulden 45 Jahre lang Geld».