Zum Beginn jeden Sommers melden Flüchtlingsorganisationen und Regierungen eine steigende Zahl an Menschen, die versuchen in die EU zu gelangen. Aber derzeit macht sich vor allem in den südlichen und den östlichen EU-Staaten eine Alarmstimmung breit. Denn die europäische Grenzschutzagentur Frontex verzeichnete für die ersten fünf Monate dieses Jahres 47'100 illegale Grenzübertritte - 47 Prozent mehr als im Jahr 2020, in dem allerdings die Zahlen wegen Corona und der weltweiten Reisbeschränkungen sehr niedrig waren. Und einer Reihe von Nachbarstaaten wird unterstellt, dass sie die Migrationsfrage ganz bewusst als politisches Druckmittel gegen die EU einsetzen - und die Zahlen in die Höhe treiben. Nun wollen Politiker zumindest an einem Punkt Sicherheit schaffen - der Türkei.

Am Donnerstag schlug Litauens Präsident Gitanas Nauseda Alarm. Der Nachbarstaat Belarus schicke immer mehr Migranten vor allem aus Irak, Iran und Syrien über die Grenze und damit in die EU, kritisierte Nauseda in Brüssel. Und er unterstellt der politischen Führung in Minsk sogar, dass sie mit Zusatzflügen nach Bagdad ganz bewusst weiter Migranten heranschaffe, um den Druck auf die EU zu erhöhen. Denn die hat erneut die Sanktionen gegen die belarussische Führung wegen der Unterdrückung der innenpolitischen Opposition verschärft. Gerade Litauen hat etliche Oppositionelle aufgenommen. Also, so Nauseda, würden Migranten nun als politische Waffe eingesetzt.

Am anderen Ende Europas erhebt die spanische Führung einen ähnlichen Vorwurf gegen das nordafrikanische Marokko. Die Führung in Rabat ist verärgert, dass Spanien - aber auch etwa Deutschland - den Anspruch Marokkos auf die Westsahara nicht anerkennen wollen. Als Ende Mai dann innerhalb von 36 Stunden etwa 8000 Migranten in die spanische Exklave Ceuta schwammen, warf die spanische Regierung Marokko Erpressung vor. Denn ohne die Mitarbeit der marokkanischen Sicherheitsbehörden hätten sich nicht so viele Menschen Ceuta nähern können.

Das Muster ist nicht neu. Schon der frühere libysche Machthaber Muammar al Gaddafi wollte Migration als politisches Druckmittel einsetzen und drohte 2011 vor seinem Sturz, er werde die Schleusen nach Europa öffnen, wenn die EU nicht Milliardenbeträge überweise. Und auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte im Oktober 2019 damit gewarnt, dass sein Land die Tore öffnen würde und hatte tausende Flüchtlinge mit dem Versprechen an die Grenze zu Griechenland geschickt, sie könnten in die EU.

Internationale Reisebranche bietet wieder mehr Flüge an

Doch danach rückte das Thema Migration in der EU auch durch Corona in den Hintergrund. Das Virus hatte dafür gesorgt, dass die Reisetätigkeit weltweit erlahmte und damit auch die Zahl an Migranten an der EU-Außengrenze zurückging. Nun entspannt sich die Corona-Lage, die internationale Reisebranche bietet wieder mehr Flüge an - und die Flüchtlingszahlen ziehen prompt wieder an.

"Dazu kommen neue Faktoren, die Menschen in die Flucht treiben", sagt ein hoher EU-Diplomat. Der Rückzug der Nato-Truppen aus Afghanistan etwa dürfte dazu führen, dass die Taliban das Land wieder kontrollieren und mehr Menschen Afghanistan verlassen, sagt er. Im bevölkerungsreichen Äthiopien hat eine neue Rebellenoffensive im abtrünnigen Norden den Bürgerkrieg und Fluchtbewegungen neu angeheizt. In der Sahel-Zone gibt es nicht nur ein hohes Bevölkerungswachstum, sondern auch eine instabile Lage durch Islamisten, Separatisten und Milizen, die grenzüberschreitend für Destabilisierung sorgen.

Die Libyen-Konferenz am Mittwoch in Berlin kann deshalb als Versuch gesehen werden, zumindest eines der Transitländer an der EU-Außengrenze zu stabilisieren - die wie ein Puffer für die vielen Migranten aus Schwarzafrika oder eben Asien wirken.

Nun dringen Merkel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen darauf, zumindest mit der Türkei eine Migrations-Vereinbarung bis 2024 zu schließen. Merkel hatte schon im Jahr 2015 das EU-Türkei-Migrationsabkommen angestoßen, bei dem das Land im Gegenzug zum Zurückhalten viele Migranten insgesamt sechs Milliarden Euro zur Versorgung der rund 3,7 Millionen syrischen Flüchtlinge erhält, die die Türkei aufgenommen hat. Davon sind nach Angaben der Kommission 4,1 Milliarden Euro ausgezahlt. Nun sollen bis 2024 weiter 3,5 Milliarden Euro dazukommen. 2,2 Milliarden Euro sollen an Jordanien und den Libanon gehen, die ebenfalls hunderttausende syrische Flüchtlinge beherbergen. Nach den Erfahrungen von 2015 soll die Versorgung der Menschen vor allem "heimatnah" erfolgen, heißt es in der Bundesregierung.

Nur müssen die Nachbarstaaten der EU auch mitspielen. Da Litauens Präsident dies im Falle Belarus nicht sieht, fordert er nun EU-Hilfe für die Überwachung der EU-Außengrenze in seinem Land und eine Aufstockung des Personals der europäischen Grenzagentur Frontex.

(Reuters)