cash.ch: Frau Pisani, inwiefern werden die Leitzinserhöhungen der Zentralbanken einen Einfluss auf die Inflationsraten in naher Zukunft haben?

Florence Pisani: Das ist eine gute Frage. Ein Teil der Inflation kann gar nicht erst von den Zentralbanken beeinflusst werden. So haben die Zentralbanken zum Beispiel keinen Einfluss auf die Lieferketten-Problematik. Dasselbe gilt für die wachsenden Preise für Rohstoffe, auch auf diese haben die Zentralbanken keinen Einfluss. Der einzige Teil, bei dem die Zentralbanken ihren Einfluss ausüben können, ist bei der Lohn-Preis-Spirale. Sie bewerkstelligen dies, indem sie versuchen, die Expansion der Wirtschaftsaktivitäten zu regulieren: Wenn die Wirtschaft überhitzt, suchen sie die Aktivität zu verlangsamen, indem sie die Leitzinsen erhöhen. In den USA beispielsweise steigen die Löhne rapide und die Fed hat ihre Zinsschritte vorgezogen, um die Konjunktur zu bremsen und den Druck auf dem Arbeitsmarkt zu mildern.

Wird sich der Inflationsdruck auch auf die Löhne in europäischen Ländern auswirken?

In viel geringerem Masse als in den Vereinigten Staaten, denn dort ist der Arbeitsmarkt entspannter. Dort erhöhen sich die Löhne um 6 bis 7 Prozent. In Europa wachsen die Löhne hingegen immer noch nur um knapp 3 Prozent. Natürlich werden wir in den nächsten Monaten noch eine Beschleunigung beobachten können. So wird es im September eine Mindestlohnerhöhung in Deutschland geben. Und auch in anderen europäischen Ländern steigt der Aufwärtsdruck auf die Löhne. Diese Lohnerhöhungen werden aber auch erwünscht sein, denn sonst würde die Kaufkraft gefährlich eingeschränkt. Die EZB ist zwar im Vergleich zur Schweizer Zentralbank später dran mit ihren Leitzinserhöhungen, aber sie hat auch eine komplexere Problematik vor sich. Aber die EZB wird die Zinsen im Juli erhöhen und wahrscheinlich im September einen weiteren Zinsschritt einleiten.

Glauben Sie, dass dadurch auch die Immobilienpreise sinken werden?

Die Immobilienpreisentwicklung wird sich allmählich verlangsamen. Denn die Kombination aus hohen Hypothekarzinsen und sehr hohen Immobilienpreisen macht den Hauskauf viel schwieriger. Üblicherweise steigen durch die Leitzinserhöhungen auch die Hypothekarzinsen. Dieser Vorgang ist in den USA eindeutig im Gange, da sich die Hypothekarzinsen von 3 auf 6 Prozent erhöht haben. Doch während die Bauaktivität aufgrund des Rückstaus noch ein paar Monate lang stark bleiben wird, werden die höheren Hypothekarzinsen schliesslich dazu führen, dass die Investitionen im US-Wohnimmobilienbereich gebremst werden.

Diese Prozesse können wir momentan auch in der Schweiz beobachten.

Das überrascht mich nicht. Geldpolitik funktioniert hauptsächlich darüber, dass sie zinsempfindliche Ausgaben drosselt, Immobilieninvestments ganz besonders. In der Schweiz wie auch anderswo mindern höhere Hypothekarzinsen und steigende Hauspreise die Erschwinglichkeit.

Wie gross könnten die Zinsschritte der EZB konkret ausfallen?

Das wird sehr auf die Situation drauf ankommen. Wir glauben, dass vor allem der Zugang zu Gas eine wesentliche Rolle spielen wird. Falls wir nicht auf russisches Gas verzichten müssen, könnte die EZB die Zinsen bis Ende 2022 auf 1 Prozent erhöhen. Werden wir jedoch von russischem Gas komplett abgeschnitten, wird die Wirtschaftsaktivität in der Eurozone schrumpfen und es wird unwahrscheinlich, dass die EZB ihre Geldpolitik in diesem Masse straffen wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer solchen Situation kommen könnte, hat sich inzwischen erhöht, da momentan 60 Prozent weniger russisches Gas nach Europa geliefert wird. Wenn wir bis Ende Jahr vollständig von den russischen Gaslieferungen abgeschottet werden, wird es keine andere Wahl geben, als eine Rationierung zu organisieren: Kurzfristig haben wir nicht genügend alternative Ersatzmöglichkeiten, um den Mangel auszugleichen. Auch verflüssigtes Gas und Kohle werden dafür nicht ausreichen.

Und wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit einer Rezession in Europa und den Vereinigten Staaten ein?

In den Vereinigten Staaten rechnen wir mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent. In Europa hingegen liegt diese angesichts der immer wahrscheinlicheren Energieknappheit gegenwärtig höher, ich würde sagen bei mehr als 50 Prozent.

Denken Sie, dass der Aktienmarkt ein solches Worst-Case-Szenario bereits eingepreist hat?

Die eingepreiste Wahrscheinlichkeit liegt bei ungefähr 70 Prozent. Das heisst, dass es noch nicht vollständig eingepreist ist. Sollte eine Rezession eintreffen, könnten die Aktienmärkte also ein bisschen weiter runter gehen, hauptsächlich dehalb, weil die Schätzungen für Unternehmensgewinne nach unten korrigiert werden.

Denken Sie, auch eine Stagflation liegt im Bereich des Möglichen?

Das kommt ganz darauf an, wie man den Begriff Stagflation definiert. Wenn man damit meint, dass sowohl ein schwaches Wirtschaftswachstum als auch eine hohe Inflation vorherrscht, dann haben wir diesen Moment bereits fast erreicht. Man sollte unter einer Stagflation aber eher einen Prozess verstehen, wie er vor allem während der 70er-Jahre zu beobachten war. Die Inflation hat damals die Löhne nach oben getrieben, was Firmen zu Preiserhöhungen trieb. Ein solcher Prozess ist in Europa momentan nicht beobachtbar. Das liegt vor allem am momentanen Lohnbildungsmechanismus. In den 70er-Jahren waren Löhne nämlich noch vollständig an die Konsumentenpreise gekoppelt, was heutzutage nicht mehr der Fall ist. Solange wir keine Lohn-Preis-Spirale in einem Umfeld niedrigen Wachstums sehen, würde ich nicht von einer Stagflation sprechen.

Viele Staaten haben momentan mit hohen Schulden zu kämpfen. Welche Langzeitfolgen erwarten Sie hier?

Das Hauptrisiko liegt viel eher beim schwachen Wachstum als bei hohen Zinsen. Ein schwächeres Wirtschaftswachstum stellt nämlich ein bedeutendes Risiko dar, weil es den Staatshaushalt 'mechanisch' verschlechtert. Es verringert etwa die Einnahmen und vergrössert die Ausgaben wie etwa für die Arbeitslosenunterstützung. Ausserdem wird während einer Rezession auch zusätzliche diskretionäre Finanzunterstützung vonnöten sein. Eine Rezession würde also für viele Regierungen die öffentlichen Finanzen erheblich verschlechtern und ihre Aufgaben erschweren.

Das gilt auch für die Europäische Zentralbank, oder?

Da haben Sie vollkommen recht. Aber wenn wir in eine Rezession hineingeraten, würde das eine aussergewöhnliche Situation bedeuten, und die EZB hat bereits klar gemacht, dass sie eine 'Fragmentierung' – ein neuer Begriff, den sie für die Ausweitung der Spreads zwischen Ländern geprägt hat – verhindern will. Auch wenn wir noch nicht genau wissen, welche Instrumente sie dafür benutzen wollen, bin ich überzeugt, dass sie einen Weg finden werden.

ManuelBoeck
Manuel BoeckMehr erfahren