Fed-Chef Jerome Powell erläuterte am Donnerstag den Schwenk: Er bietet dem Fed zugleich mehr Spielraum beim Ansteuern ihres Inflationsziels von zwei Prozent. Demnach könnte sie die Inflationsrate für einen längeren Zeitraum über dem angepeilten Idealwert halten, wenn diese zuvor geraume Zeit darunter geblieben ist.
Dieses Modell ist im Fachjargon als "Average Inflation Targeting" bekannt. Zugleich soll aber stets das Ziel der Vollbeschäftigung an erster Stelle stehen. Somit orientiert sich das Inflationsziel künftig an Durchschnittswerten. Bisher stellt das Preisziel der Fed ein Punktziel dar, das sie möglichst exakt erreichen will.
Reaktion auf geldpolitisches Umfeld
Der Strategieschwenk der Fed kommt auch vor dem Hintergrund der Rezession enorme Bedeutung zu, die die Wirtschaft im zweiten Quartal aufs Jahr hochgerechnet um 31,7 Prozent abstürzen und Vollbeschäftigung in Massenarbeitslosigkeit umschlagen ließ. Die Notenbank reagiert mit ihrer Neuorientierung zugleich auf ein geldpolitisches Umfeld, das durch niedrige Zinsen und eine gedämpfte Inflation in zahlreichen Staaten und Währungsräumen der Welt gekennzeichnet ist.
Das traditionell als Ort für geldpolitische Weichenstellungen genutzte jährliche Wirtschaftssymposium von Jackson Hole diente Powell als Forum, um den Märkten den Paradigmenwechsel zu erläutern - auch wenn die Fed-Konferenz dieses Jahr wegen Corona ausnahmsweise online abgehalten wird.
Sozial Benachteiligte im Blick
Powell wies wenige Wochen vor der Anfang November anstehenden US-Präsidentschaftswahl daraufhin, dass es trotz der Wirtschaftserholung Millionen von arbeitslos gewordenen Amerikanern beispielsweise in der Gastro- oder Reisebranche schwer haben dürften, wieder in Lohn und Brot zu kommen. "Dieser Teil der Wirtschaft wird sich mit der Erholung schwertun", räumte der Chef der Notenbank ein, der manche Kritiker vorwerfen, sie achte zu sehr auf die Belange der Wall Street und weniger auf die der kleinen Leute. Powell betonte nun, die Fed habe bei ihrer Strategie sehr wohl die sozial Benachteiligten im Blick. Sie trage damit der Tatsache Rechnung, dass ein starker Arbeitsmarkt "besonders Wohngegenden mit niedrigem oder moderatem Einkommen" zugutekomme.
Viele Experten gehen mittlerweile davon aus, dass die US-Wirtschaft sehr niedrige Arbeitslosenquoten gut verkraften kann, ohne dass eine Spirale aus stark steigenden Löhnen und heisslaufender Inflation in Gang gesetzt wird. In dieser Logik könnte die Fed damit auch eine Jahresteuerung jenseits der bislang angestrebten zwei Prozent tolerieren und somit dem Arbeitsmarkt weiteren Schub verleihen.
Dow Jones legt zu
Der Dow Jones Industrial legte nach der Ankündiung nach etwas mehr als einer Handelsstunde um 0,81 Prozent auf 28'560 Punkte zu. Das Kursbarometer der Wall Street schlug sich so dieses Mal besser als die zuletzt stark gefragten Technologiewerte. Der Nasdaq 100 schaffte zwar einen neuen Rekord, indem er erstmals die Marke von 12'000 Punkten testete. Mit einem Plus von 0,20 Prozent auf 11'995 Punkte hinkte er dem Dow aber hinterher. Der marktbreite S&P 500 brachte es derweil mit 3492 Punkten auf ein Plus von 0,40 Prozent. Auch er setzte seine Rekordrally fort.
Der Dollar geriet am Donnerstag nach der Rede von Fed-Chef Jerome Powell deswegen zunächst unter Druck. Anschließend kehrte sich der Trend am Devisenmarkt jedoch um: Der Dollar-Index, der die Devise zu anderen wichtigen Währungen misst, lag 0,2 Prozent höher auf 93'207 Punkten. Der Euro, der zwischenzeitlich auf knapp 1,19 Dollar hochgeschnellt war, fiel mit 11'770 Dollar sogar unter das Niveau von vor den Äußerungen Powells.
Auch bei gut laufender Wirtschaft lockere Geldpolitik
In der nun ausgemusterten Vorgabe der Fed zu Langfrist-Zielen und zur geldpolitischer Strategie von 2012 galt es den Währungshütern noch als "Grund zur Sorge", wenn der angestrebte Wert dauerhaft unter- oder überschritten würde. In dieser Strategie sahen manche Ökonomen die Gefahr, dass sich Zinserhöhungen aus Sorge vor künftigen Inflationssprüngen ergeben könnten, die letztlich kontraproduktiv wirken.
Denn dann drohe der Arbeitsmarkt an Schwung zu verlieren, noch bevor weniger Qualifizierten oder Langzeitarbeitslosen die Rückkehr ins Erwerbsleben gelinge. Für Ökonom Thomas Gitzel von der VP Bank lässt der Strategieschwenk der Fed folgenden Schluss zu: "Die US-Geldpolitik wird zukünftig auch bei einer gut laufenden US-Wirtschaft lockerer bleiben können." Die Fed hat den Leitzins in der Corona-Krise auf die Spanne von null bis 0,25 Prozent gesenkt und bereits signalisiert, noch längere Zeit daran festhalten zu wollen.
Ausstieg auf die lange Bank schieben
Laut Chefökonom Uwe Burkert von der LBBW könnte der Strategieschwenk dazu führen, dass ein Ausstieg aus der derzeit ultralockeren Geldpolitik noch weiter auf die lange Bank geschoben wird: "Selbst wenn die US-Wirtschaft nach der Coronakrise in einen stabilen und anhaltenden Aufschwung einschwenkt", so der Experte.
Ein weiterer Aspekt der Strategieüberarbeitung unterstreiche diese Perspektive: "Das Ziel der Vollbeschäftigung wird als breitangelegtes und sozial inklusives Ziel hervorgehoben." Künftig dürfte es somit nicht mehr als potenzielles Risiko angesehen werden, den Arbeitsmarkt in der Hochkonjunktur heißlaufen zu lassen, sondern als Mittel, um den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu fördern, so Burkert.
"Zahnloser Tiger"
"Der Auftritt Jerome Powells beim nun virtuellen Jackson Hole Symposium der Kansas City Fed zeigt erwartungsgemäß, dass sich die US-Notenbank der Idee eines flexiblen Inflationsziels verschrieben hat", so Tobias Basse von Nordlb. Man strebe im Zeitverlauf eine durchschnittliche Inflationsrate von zwei Prozent an. "Folglich muss die Geldpolitik nicht sofort auf ein Überschießen eines Preisniveauanstiegs reagieren."
Eigentlich erfordere die traditionelle Strategie des Inflationsziels die konkrete Definition eines relevanten Preisindexes. "Dies soll nun offenbar nicht geschehen. Man will die US-Geldpolitik in der Tat nicht mittels einfacher Formeln a la Taylor berechenbar machen", so Basse. "Ein Ziel ohne Zielgröße droht aber zum zahnlosen Tiger zu werden." In jedem Fall handele es sich um ein Signal für eine wohl auch langfristig sehr expansiv ausgerichtete Geldpolitik in den Vereinigten Staaten.
Fortsetzung der ultralockeren Geldpolitik
Das meint auch Ralf Umlauf von Helaba. "Kurzfristig bestehen keine Zweifel an einer fortgesetzt ultralockeren Geldpolitik der Fed und die heute eingeleitete Strategieänderung der Fed lässt dies mehr als bisher auch für die mittlere Frist erwarten." Denn mit der Möglichkeit, nach einer Phase niedriger Inflation eine Phase höherer Teuerungsraten zuzulassen, sei der Druck reduziert, mit Zinserhöhungen gegenzusteuern.
"Insbesondere die mittel- und langfristigen, durchschnittlichen Inflationserwartungen sollten vor diesem Hintergrund zulegen, zumal sie trotz der Erholungen im historischen Vergleich noch immer als niedrig einzustufen sind", so Umlauf.
(Reuters / AWP)