Aus dem Nichts gründete Xu Jiayin 1996 eine Immobilienfirma. 2017 wurde er dank seiner China Evergrande Group zum reichsten Mann Chinas. Noch vor zwei Jahren gab es für ihn noch keine Grenzen. Mit Investitionen von 45 Milliarden Yuan Renminbi (6 Milliarden Franken) wollte er innerhalb von drei bis fünf Jahren auch zum weltweit grössten E-Auto-Unternehmen werden. Wie schon bei den Immobilien fusste auch hier Xus Geschäftskonzept auf zwei Pfeilern: Aggressive Expansion und Kredit.

Immobilien-Patriarch Xu ist, wie praktisch alle Millionäre und Milliardäre Chinas, gut mit der allmächtigen Partei verbandelt. Er hat jedoch offensichtlich Parteichef Xi Jinpings Direktiven übersehen oder falsch interpretiert. Bereits 2016 nämlich hat Xi unmissverständlich festgestellt: "Wohnungen sind zum wohnen, nicht zum spekulieren." Zudem hat die Zentralregierung 2020 "drei rote Linien" für den Immobiliensektor festgelegt. Danach soll die Ausgabe von Hypothekarkrediten begrenzt und die Schuldenquote der Konzerne limitiert werden, zudem soll weniger Land für die Bebauung zur Verfügung gestellt werden.

Ende September ist für Evergrande die Zahlungsfrist für 83,5 Millionen Dollar an Anleihezinsen verstrichen. Jetzt läuft eine 30-tägige Nachfrist. Sollte Evergrande in dieser Frist seinen Zinszahlungen nicht nachkommen, wäre das Unternehmen insolvent, also pleite. Xu Jiayin gibt sich noch immer optimistisch. Mitte September meinte er in einer Mitteilung an seine Angestellten, er glaube, dass Evergrande bald aus der "dunkeln Zone" heraus sei; es gelte jetzt zu bauen und Wohnungen an die Eigentümer auszuliefern. Derzeit warten 1,5 Millionen Wohnungskäufer, die bereits bezahlt haben, auf ihre Schlüssel. Die China Evergrande Group betreibt derzeit über tausend Projekte in 280 Städten.

Xus Unternehmen ist mit rund 300 Milliarden Dollar verschuldet. Die Pekinger Zentralregierung hat sich zum Fall direkt noch nicht geäussert und wartet ab, wohl auch als ein Warnzeichen an andere Immobilien-Riesen. Die chinesische Immobilien-Branche plus die dazugehörende Stahl- und Zementindustrie machen je nach Schätzung 25 Prozent bis 29 Prozent des Brutto-Inlandprodukts aus. Zudem sind zwanzig Prozent aller Arbeitsplätze vom Immobilien-Bereich abhängig. Und dies vor allem: ein Drittel aller Einkünfte generieren die Lokalregierungen von Landverkäufen. Es geht also mehr oder weniger ums Ganze und vor allem auch um zukünftiges Wachstum und mithin um die in China so wichtige soziale und wirtschaftliche Stabilität.

Entscheidender Unterschied zu Lehman Brothers

Im Ausland wurde anfangs vor allem an den Casino-Börsen hysterisch reagiert. Schliesslich sei China mit rund 30 Prozent am Wachstum der Weltwirtschaft beteiligt. In ihrem Börsen-Chinesisch schwabulierten die hochbezahlten, jedoch unkundigen Analytiker – Neudeutsch: Analysten – von einem "Lehman-Moment" oder einer "Finanzkrise à la Lehman".

Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zum Zusammenbruch der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers und zur daraus resultierenden Finanzkrise 2008. In den USA konnte damals Wohnungseigentum ohne Vorauszahlung gekauft werden. Es war auch möglich, mehrere Objekte sich käuflich anzueignen. In China dagegen sind 30 Prozent bis 70 Prozent Eigenmittel erforderlich, zudem können nicht mehr als zwei Wohnungen gekauft werden. Die Auswirkungen auf das chinesische Immobilien- und Finanzsystem sind mithin überschaubar. Ein Vergleich mit 2008 ist nicht nur schief, sondern rundheraus falsch. Voodoo-Ökonomie sozusagen.

China-Kenner Frank Sieren urteilt: "Ein Zusammenbruch oder gar eine globale Finanzkrise drohen nicht". Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank wiederum meint: "Für Europa kann ich sagen, dass es nur begrenzt direkt betroffen ist". Sogar Amerikas Zentralbanker Powell sieht alles wenig dramatisch. Der Präsident der Schweizer Nationalbank, Thomas Jordan wiederum schwurbelt akrobatisch im "Sowohl-als-auch": "Es ist falsch, in Alarmstimmung zu sein, es ist aber auch falsch, es als kleine lokales Problem abzutun". So kann er allenfalls dann am Schluss sagen, er habe recht gehabt. Jordan sowie Politiker, Finanz- und Wirtschaftsökonomen und natürlich Journalisten sollten sich allerdings mehr und besser über China kundig machen.

Zentrum der Welt verschiebt sich

Jordan beispielshalber mag zwar viel von westlichem Kapitalismus und dem Finanzsystem verstehen, vom chinesischen Sozialismus und der sozialistischen Marktwirtschaft hat er jedoch keine Ahnung. Was viele im Westen, selbst studierte Sinologen, in den letzten Jahrzehnten nicht begriffen haben, ist die Tatsache, dass sich das Zentrum der Welt langsam aber sicher vom atlantischen in den pazifischen Raum verschoben hat.

Noch wichtiger: die in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts und in den Nuller- und Zehner-Jahren dieses Jahrhunderts im Westen verbreitete Konvergenztheorie, wonach mit wirtschaftlichem Wachstum automatisch (westliche) Demokratie folge, hat sich im Falle Chinas als falsch herausgestellt. Das Reich der Mitte hat eine eigene, auf Geschichte und Tradition beruhende, erfolgreiche Entwicklungsdynamik geschaffen. Das ist nach 500jähriger europäischer Vorherrschaft für Europa und Amerika natürlich nur schwer zu verkraften.  

Gewiss, die China Evergrande Group hat Schwachstellen des chinesischen Finanz- und Wirtschaftssystems offengelegt. Die Restrukturierung des Immobilien- und Finanzsektors wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den nächsten dreissig Tagen kommen. Allerdings auf welche Weise, und wie schnell, hängt von der Initiative des chinesischen Zentralregierung ab.