Verschärft wird die Verunsicherung durch den Streit um die Pipeline Nord Stream 2, da eine Eskalation die zukünftigen Liefertermine und -mengen für russisches Gas beeinträchtigen könnte. Bundeskanzler Olaf Scholz hat angedeutet, im Falle eines russischen Einmarschs in die Ukraine werde die Pipeline, die Erdgas aus Russland direkt nach Deutschland transportieren soll, in Sanktionen des Westens einbezogen.
Sollte das fertiggestellte Projekt vor der Inbetriebnahme gestoppt werden, könnten Gaslieferungen geringer ausfallen als erwartet, sofern Russland nicht mehr Gas durch die bereits bestehenden Pipelines, die durch Polen und die Ukraine führen, pumpt.
Nachfolgend eine Bestandsaufnahme der Lage am deutschen Gasmarkt:
VON WELCHEN ZAHLEN SPRECHEN WIR?
Dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) zufolge importierte Deutschland von Januar bis November 129,3 Milliarden Kubikmeter Erdgas, sieben Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Dessen Herkunft wird aber von der Behörde nicht aufgeschlüsselt. Der Verbrauch im Inland lag 2021 bei 100 Milliarden Kubikmetern, teilte der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) mit. Ein Teil der Importe wird in andere Staaten weitergeleitet.
Der Chef des Kraftwerksbetreibers Uniper, Klaus-Dieter Maubach, taxiert den Anteil russischen Erdgases am deutschen Bedarf auf 50 Prozent. Die Quote kann allerdings schwanken. Dem Datenanbieter ICIS zufolge lieferte Russland im Dezember 2021 32 Prozent des in Deutschland verbrauchten Erdgases. Norwegen steuerte 20 Prozent bei, die Niederlande zwölf Prozent. Lediglich fünf Prozent des deutschen Erdgas-Bedarfs wird aus heimischer Förderung gedeckt. Etwa 22 Prozent stammten aus Speicherkavernen und der Rest aus anderen Quellen. "Russland kann als Lieferant in den kommenden Jahren nicht ersetzt werden", sagt Maubach.
Europäische Versorger und Importeure besitzen seit Jahrzehnten Lieferverträge für russisches Pipeline-Gas mit Laufzeiten von bis zu 30 Jahren. Die Preise orientieren sich an denen für Rohöl oder den Kursen an virtuellen Gashandelspunkten die an traditionellen Umschlagplätzen entstanden. Es steht den Parteien aber frei, Informationen über den Ablauf oder die Konditionen von Lieferverträgen zu veröffentlichen. Daher ist die Transparenz hier gering.
Deutschland verfügt über unterirdische Gaslagerstätten mit einem Volumen von 24 Milliarden Kubikmetern. Das entspricht in etwa einem Viertel des jährlichen Bedarfs. Von den 24 Milliarden Kubikmetern Speicherkapazität entfällt ein Fünftel auf die Anlage in Rehden bei Osnabrück, die einer Tochter des russischen Gaskonzerns Gazprom gehört. Derzeit liegt der Füllstand der deutschen Gaslager dem Branchenverband Gas Infrastructure Europe zufolge bei 45 Prozent. Das sind neun Prozentpunkte weniger als vor Jahresfrist.
WOFÜR BENÖTIGT DEUTSCHLAND GAS?
Dem BDEW zufolge wurde 2021 15,3 Prozent des deutschen Stroms in Gaskraftwerken erzeugt. Bei einem Wegfall größerer Erdgas-Importmengen müsste die Lücke entweder durch Stromeinfuhren aus anderen Ländern oder eine verstärkte Nutzung von Kohlekraftwerken gefüllt werden.
Problematischer sind Lieferausfälle für andere Verbraucher. Rund die Hälfte der 41,5 Millionen Haushalte in Deutschland wird mit Gas beheizt. Einige Branchen wie die Keramik-Industrie können ohne Erdgas nicht produzieren.
WELCHE ENERGIETRÄGER BEZIEHT DEUTSCHLAND NOCH AUS RUSSLAND?
Dem Auf und Ab der politischen Beziehungen zum Trotz verbindet Deutschland und Russland seit Jahrzehnten eine enge wirtschaftliche Partnerschaft. Der BAFA zufolge bezog Deutschland zwischen Januar und Oktober 2021 34 Prozent seines Rohöls aus Russland. Russische Steinkohle befeuerte im vergangenen Jahr zu 53 Prozent heimische Kraftwerke und Hochöfen, teilte der Verein der Kohlenimporteuere (VDKi) mit.
WIE WIRD SICH DIE GAS-NACHFRAGE ENTWICKELN?
Wegen des Ausbaus erneuerbarer Energien und pressierender Klimaziele sollte die deutsche Erdgas-Nachfrage sukzessive zurückgehen. Erdgas-Heizungen sollen langfristig durch Wärmepumpen und andere Alternativen ersetzt werden. Bei der Stromerzeugung erwarten Experten einen Anstieg, um durch neue Gaskraftwerke für eine Übergangszeit wegfallende Kapazitäten aus Kohle- und Atomkraftwerken zu ersetzen, und diese perspektivisch mit Wasserstoff zu betreiben, der für die Klimabilanz allerdings umweltschonend erzeugt werden muss.
Neben der Geschwindigkeit des Ökostrom-Ausbaus entscheidet auch die Verbreitung dieses "grünen" Wasserstoffs, der mit Hilfe erneuerbarer Energien gewonnen wird, über den künftigen Erdgas-Bedarf. Szenarien der Internationalen Energieagentur IEA zufolge könnten die gegenwärtig versprochenen Klima-Ziele europäischer Staaten die Nachfrage bis 2030 auf insgesamt 504 Milliarden Kubikmeter von 596 Milliarden im Jahr 2020 reduzieren. Durch die bestehenden und geplanten Gesetzesvorgaben würden sie allerdings nur auf 587 Milliarden Kubikmeter fallen. Die IEA liefert keine Aufschlüsselung nach Ländern.
WELCHE ALTERNATIVEN GIBT ES ZU RUSSISCHEM GAS?
Statt durch Pipelines lässt sich Gas auch in flüssiger Form mit dem Schiff transportieren. Die USA könnten in diesem Jahr Katar und Australien als Top-Lieferant von Liquefied Natural Gas (LNG) überholen. Die USA haben Interesse bekundet, bei einem Stopp für Nord Stream 2 seine Lieferungen nach Europa auszuweiten. Hierzu müsste aber die entsprechende Infrastruktur ausgebaut werden. Außerdem drohen bei verschifftem Gas größere Schwankungen beim Angebot und den Preisen.
LNG-Terminals gibt es in Großbritannien, den Küsten Nordwesteuropas und im Mittelmeer. In Deutschland fehlen bislang derartige Anlagen. Es mangelte an Investoren, da Pipelinegas vor der gegenwärtigen Krise ausreichend und zuverlässig verfügbar war, Gas selbst aber klimapolitisch unpopulär geworden war. Europa konkurriert mit asiatischen Abnehmern auf dem LNG-Weltmarkt. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck fordert den Kauf zusätzlicher LNGMengen, um die heimischen Speicher vor dem nächsten Winter aufzufüllen.
(Reuters)