Die Nerven lagen blank. Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke warnte vor einem "Tsunami", es drohe der Kontrollverlust. Die Regierung zog die Notbremse: Nach der Gastronomie mussten auch fast alle Geschäfte ausser Supermärkte schliessen, das Homeoffice wurde verpflichtend eingeführt. Kontakte wurden stark eingeschränkt, Mitglieder eines Haushaltes durften, ohne Abstandsregeln einhalten zu müssen, nur noch eine einzige Person treffen, den sogenannten "Knuffelcontact".

Die Strategie zeigte Wirkung. Die registrierten Fallzahlen in den letzten Tagen waren deutlich niedriger: Im Schnitt waren es in der vergangenen Woche landesweit täglich 4800 Neuinfektionen.

Könnte das belgische Beispiel nun Deutschland als Vorbild dienen, wo kommende Woche entschieden werden soll, wie es mit den bestehenden Corona-Massnahmen weitergeht? Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier zeigte sich am Donnerstag jedenfalls beeindruckt von den Erfolgen - auch von denen in Frankreich und den Niederlanden. Den Rückgang der Infektionszahlen führte er aber auch "auf die grosse Disziplin der Bürgerinnen und Bürger in diesen Ländern" zurück.

Auch die Zahl der Toten mit nachgewiesener Corona-Infektion ist in Belgien rückläufig. Dennoch führt das Land auch hier eine traurige Statistik an: Laut der US-Universität Johns Hopkins (JHU) verzeichnete Belgien im weltweiten Vergleich die meisten Corona-Toten pro 100 000 Einwohner. Mehr als 15 000 Tote forderte die Pandemie bislang. Zum Vergleich: In Deutschland sind es derzeit knapp 13 400.

"Wir hätten früher reagieren müssen", sagt Professor Steven van Gucht, Virologe und Leiter des staatlich-belgischen Gesundheitsamtes Sciensano, der bereits im September Alarm geschlagen hatte. Aber es sei schwierig gewesen, die belgische Öffentlichkeit von der Dringlichkeit eines Lockdowns zu überzeugen. "Als Virologen haben wir uns ziemlich einsam gefühlt."

Auch jetzt warnt er vor einer zu schnellen Lockerung der Massnahmen zum Jahresende, auch in Deutschland: "Ich verstehe, dass die Menschen sich nach einem schwierigen Jahr entspannen möchten". Aber eine Lockerung der Kontaktbeschränkungen über Weihnachten und Neujahr berge die Gefahr einer dritten Pandemie-Welle. Menschen, die sich über das Weihnachtsfest infizierten, könnten wiederum andere an Silvester mit dem Virus anstecken. Auch Skiurlaub steht der Virologe eher kritisch gegenüber. Erfahrungen mit dem Grippevirus hätten gezeigt, dass "sich treffen, küssen, tanzen" der ideale Nährboden für eine schnelle Verbreitung sei.

Auch wenn die Infektionszahlen deutlich zurückgehen, das belgische Gesundheitssystem ächzt. In Teilen des Landes mussten Ärzte und Krankenpfleger trotz Corona-Infektion zum Dienst antreten. "Ich glaube, uns stehen schwierige Zeiten bevor", sagt Marei Schwall, eine Krankenpflegerin in der Hotspot-Provinz Lüttich, die selbst auf einer Corona-Station im Einsatz war.

"Das Krankenhaussystem wurde in den letzten Jahren heruntergewirtschaftet", man fühle sich mit der Pandemie "alleingelassen", sagt Schwall. Das Krankenpflegepersonal sei "ermüdet", und dadurch anfälliger für Erkrankungen. Auch gäbe es Kollegen, die nach einem schweren Corona-Krankheitsverlauf mit Komplikationen wie chronischer Erschöpfung, Konzentrationsproblemen und Gedächtnislücken zu kämpfen hätten. "Die zweite Welle tut mir viel mehr weh", sagt Schwall. Die Politik habe zwischen Juli und September die Chance verpasst, das Personal aufzustocken.

Nicht nur unter dem Pflegepersonal herrscht Frustration. Jedes fünfte Unternehmen in Belgien drohe der Konkurs, warnte der Arbeitgeberverband bereits vor dem Lockdown. Virologe van Gucht bekommt täglich Emails von wütenden oder ratlosen Mitbürgern, manche äussern sogar Selbstmordgedanken. "Ich fühle wirklich mit", sagt van Gucht mit Blick auf die grassierende Verzweiflung. "Aber wir hatten keine Wahl. Diese Pandemie fühlt sich selbst für einen Virologen surreal an."

(SDA)