Die Arbeitslosigkeit ist und bleibt das Hauptproblem der Marktwirtschaft. Doch der technologische Fortschritt ist daran ebenso wenig schuld wie die Slalomstangen am Sturz eines Skifahrers: Ein Wirtschaftssystem muss in der Lage sein, den Fortschritt nicht nur anzutreiben, sondern ihn auch in Wohlstand und Freizeit für alle zu verwandeln. Der Markt müsste auch Musse können.
Doch damit tut er sich schwer. Warum das so ist, zeigt der Vergleich mit seinem grossen Konkurrenten, der Selbstversorgung. Ökonomen bemühen dazu gerne Robinsons Insel. Deren "vierte industrielle Revolution" war der Ersatz der Fischerrute durch das Fischernetz. Danach konnten Robinson und sein Gehilfe Freitag beide ein bisschen mehr essen und ein paar Stunden weniger arbeiten. Arbeitslosigkeit war kein Thema.
Unter Marktbedingungen hingegen hätte Freitag seine Stelle und damit alle beruflichen Kompetenzen verloren. Als Robinsons mies bezahlter Hilfshüttenwart hätte er sich Fisch nur noch freitags leisten können. Um diesen Rückgang der einheimischen Nachfrage auszugleichen, muss Robinson seine Überschüsse auf der Nachbarinsel verhökern, was dort einem weiteren Fischer den Job kostet. Damit steigt das Insel-BIP zwar leicht, aber um den Preis von Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und Fehlernährung. Das kommt uns irgendwie bekannt vor.
Produktion ohne Konsum
Der wichtigste Unterschied ist der: Die Selbstversorger reagieren unmittelbar auf die eigenen - endlichen - Bedürfnisse. Der Tag hat nun mal nur 24 Stunden, auch Konsum benötigt Zeit und Fisch stinkt, wenn man ihn zu lange lagert. Im Marktmodus der Geldwirtschaft jedoch erscheinen die Bedürfnisse als grenzenlos. Erstens weil wir erst konsumieren können, wenn wir die finanzielle Nachfrage unbekannter Dritter gedeckt haben. Zweitens weil wir mit dem Erlös nicht nur konsumieren, sondern auch finanzielle Vorräte anlegen können, und dies angesichts der Marktrisiken auch müssen. Was, wenn ich krank werde, meine Spezialität nicht mehr gefragt ist, die Konjunktur abflaut, mein Hauptkunde Pleite geht? Kurz: Der Markt hat eine angeborene Tendenz zur Produktion ohne Konsum, sprich zu Überproduktion und Arbeitslosigkeit.
Entgegen anders lautenden Behauptungen löst der freie Markt dieses Problem nicht allein. Er braucht dazu die nachfragestützenden Institutionen des Sozialstaats - Ferien, Alters- und Arbeitslosenversicherung, Arbeitsgerichte usw. Nicht zuletzt müssen die Arbeitszeiten laufend dem durch die Technologie verringerten Bedarf angepasst werden. So wird der Zusammenhang von Produktion und Konsum auf der Ebene des Nationalstaates wiederhergestellt. Das hat lange funktioniert. Bis in die 1980er Jahre war Arbeitslosigkeit kein Thema mehr.
Überschüsse exportieren
Seit der Einführung der 40-Stunden-Woche ist jedoch die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in Deutschland um rund 10 und in der Schweiz um gut 7 Stunden gesunken. Mehr war wegen der höheren Produktivität nicht nötig. Doch statt die Arbeitszeiten anzupassen, haben die Länder versucht, das Ideal der 40-Stunden-Woche mit Exportüberschüssen aufrecht zu erhalten, sprich die Arbeitslosigkeit zu exportieren. Das nennt sich Standortwettbewerb. Ihn gewinnt, wer die Steuern und die Löhne senkt und die Arbeitsmärkte flexibilisiert. Die neue Regel lautet: Wer arbeiten will, muss erst den Gürtel enger schnallen. Wenn das alle tun, gibt es weniger Arbeit für alle. Da hilft auch ein Sieg im Standortwettbewerb höchstens kurzfristig.
Zugegeben: Aus diesem Teufelskreis herauszukommen, ist nicht leicht. Der Standortwettbewerb ist nun mal Tatsache und als kleines, rohstoffarmes Land brauchen wir Importe - die wir mit entsprechenden Exporten finanzieren müssen. Doch hier kommt nun die vierte industrielle Revolution ins Spiel. Sie hat nämlich die - wenig beachtete - Eigenschaft, dass sie die Abhängigkeit von den Importen drastisch verringert: Öl, Gas und Kohle? Wozu auch? Jetzt gibt es Wind und Sonne. Autos? Mit Sharing-Modellen können wir den Bedarf halbieren. Nahrungsmittel? Mit Urban-Gardening, Insektenkulturen und Acquaponic versorgen wir uns ohne grossen Mehraufwand weitgehend selbst. Industriegüter? Dank der 3D-Technologie ist es heute effizienter, wieder vor Ort zu produzieren, direkt beim Konsumenten. Zudem verwenden wir ohnehin längst einen immer grösseren Teil des BIP und der Arbeitskraft für persönliche Dienstleistungen.
Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt verringern
Die Wirtschaft wird also wieder lokaler. Das relativiert den Druck des Standortwettbewerbs und vergrössert den Spielraum für nationale Lösungen. Der durchschnittliche Arbeitnehmer arbeitet heute 32 Stunden. Damit decken wir nicht nur den Eigenbedarf sondern erwirtschaften auch noch 12 BIP-Prozente Überschuss. Warum also beruht unser Arbeitsmarkt und das Sozialversicherungssystem immer noch auf der Vorstellung einer 40-Stunden-Woche? Rein rechnerisch bedeutet dies, dass wir pro acht Vollzeitstellen zwei Arbeitslose im Inland und einen im Ausland produzieren. Muss das sein?
Und warum organisieren wir die bezahlte Arbeit nicht vermehrt so, dass wieder mehr Selbstversorgung in Familie und Nachbarschaft möglich wird? Das verringert die Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt und kann sogar mit einer Effizienzsteigerung verbunden sein, denn die arbeitsteilige Marktproduktion ist aufwendig. Sie verschlingt enorm viel Werbung, Transport, Kontrolle, Arbeitsbürokratie, Finanzdienstleistungen usw.
In diesem Kontext kann schliesslich auch ein Grundeinkommen hilfreich sein - vorausgesetzt, es wird nicht bedingungslos gewährt. Vielmehr sollte es so bedingt sein, dass damit die lokale Produktion (ob mit oder ohne Geld) gefördert wird und lokale Bedürfnisse befriedigt werden. Gerade in Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit bleibt erfahrungsgemäss viel ungemachte Arbeit liegen. Kein Wunder: Der Markt reagiert auf Bedürfnisse erst dann, wenn Kaufkraft dahintersteckt. Arbeitslosigkeit wird damit zum Selbstläufer. Da müssen wir dem Markt nachhelfen.
Mehr von Vontobel:
www.werner-vontobel.ch
makroskop.eu
blickamabend.ch
oekonomenstimme.org