Dass Xi Jinping China und Deutschland am Dienstag ausdrücklich als «zweit- und drittgrösste Volkswirtschaft der Welt» bezeichnete, war eine der freundlichen Gesten des Präsidenten in Peking gegenüber seinem Gast aus Europa. Denn während sich Bundeskanzler Olaf Scholz zuhause ständig Vorwürfe der Opposition anhören muss, dass seine Ampel-Regierung für einen wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands sorge, wurde er auf seinem dreitägigen Besuch im Reich der Mitte hofiert. Gemeinsam könnten beide Staaten für mehr Stabilität in der Welt sorgen – wenn man sich nur gegenseitig respektiere und neben Gemeinsamkeiten auch die Unterschiede akzeptiere, sagte Xi. Die Differenzen etwa über den Umgang mit Russland musste Scholz selbst ansprechen.

Ob man die erste grosse Chinareise eines deutschen Regierungschefs seit der Corona-Krise nun als «Normalisierung» ansieht wie etwa der Geschäftsführer der Aussenhandelskammer Ostchina, Maximilian Butek, oder als «Re-Engagement» wie der Direktor des Berliner China-Thinktanks Merics, Mikko Huotari und trotz der 2023 beschlossenen kritischeren China-Strategie der Ampel: Die Blicke richten sich wieder stärker auf China, und nicht nur aus Deutschland.

Autos kommen aus China

Dabei verweisen deutsche Regierungsvertreter auf positive und negative Gründe, auf Chancen und Sorgen: Einerseits übt die schiere Grösse der chinesischen Volkswirtschaft, die bald über eine Mittelschicht von 800 Millionen Menschen verfügen wird, gerade in Zeiten schwachen Wachstums einen enormen Reiz aus. Erst am Dienstag meldete das chinesische Statistikamt ein Wachstum im ersten Quartal von 5,3 Prozent. «Sich von so einem grossen Markt zurückzuziehen, ist keine Alternative, sondern wir bauen eher unsere Position heraus», fasste Mercedes-Chef Ola Källenius in der ARD die Stimmung in vielen deutschen Unternehmen zusammen. Der chinesische Automarkt ist längst der grösste der Welt – und nach Einschätzung von Experten auch der innovativste, gerade bei E-Autos.

In einer Aussenhandelskammer-Umfrage unter den in der Volksrepublik vertretenen Firmen gab fast die Hälfte an, dass ihre chinesischen Konkurrenten in ihrem Bereich in fünf Jahren führend sein werden. Viele Unternehmen wollen trotz aller Mahnungen vor einer zu grossen Abhängigkeit weiter in China investieren – mit dem Ziel, dort die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und mehr lokale Produktion aufzubauen. Es geht weniger um Exporte aus chinesischer Produktion, sondern die Belieferung des riesigen Binnenmarktes.

BMW-Chef Oliver Zipse hält die Mahnungen der Ampel-Regierung vor einer zu grossen Abhängigkeit deshalb zumindest für sein Unternehmen für unnötig. «BMW ist global aufgestellt. Und das ist eigentlich die beste Strategie, Risiken zu minimieren», sagte er der ARD. In Unternehmenskreisen heisst es, dass man angesichts der Spannungen zwischen den USA und China dennoch darauf achte, das Geschäft innerhalb der Firmen stärker zu separieren – Märkte müssen notfalls separat bedient werden. Das liegt nicht nur an China, sondern auch daran, dass die USA in einigen Bereichen keine Bauteile chinesischer Firmen mehr akzeptieren. Das könnte übrigens zulasten der deutschen Exportzahlen gehen, weil auch deutsche Firmen mehr Güter in China selbst produzieren statt sie aus Deutschland zu liefern.

Lange Sorgenliste deutscher Firmen

Aber es gibt auch Sorgen, was die wirtschaftlichen Beziehungen betrifft. Dass BMW und Mercedes in Peking so vehement für Freihandel votierten, vor EU-Sanktionen gegen chinesische Elektro-Autobauer warnten und die eigene Wettbewerbsfähigkeit priesen, änderte aber nichts daran, dass Scholz in die Gespräche mit einer langen Liste an Klagen der deutschen Wirtschaft ging. Zwar warnte er in Shanghai, dass man mögliche EU-Massnahmen nicht aus protektionistischen Überlegungen heraus andenken sollte. Aber auch Scholz betonte, dass China nicht Überkapazitäten wegen einer schwachen Binnennachfrage nun auf den Weltmarkt abladen dürfe. Klagen darüber sowie Dumpingpreise dank staatlicher Subventionen gibt es nicht nur bei E-Autos, sondern auch in der Solarbranche oder bei Recyclingfirmen.

Dazu kommen die Abschottung des chinesischen Marktes durch «buy chinese»-Anordnungen und verschleppte Zulassungen für ausländische Produkte von Medizintechnik bis Saatgut. An der Tongji-Universität in Shanghai mahnte Scholz mit Hinweis auf das in China übliche Kopieren von Erfindungen, dass der Schutz des geistigen Eigentums weiter ein «sehr, sehr wichtiges Thema» für die deutsche Wirtschaft sei.

Trump schreckt ins reich der Mitte ab

Aber das ändert nichts an der Anziehungskraft für viele Firmen – zumal die Aussicht auf eine Rückkehr von Donald Trump ins Weisse Haus nach der US-Präsidentschaftswahl im November den Blick auf die Vereinigten Staaten als mutmasslich sicheren Hafen für Investitionen trübt. Während bei China eine mögliche gewaltsame Eroberung Taiwans und folgende Sanktionen wie ein Damoklesschwert über den internationalen Wirtschaftsbeziehungen schwebten, ist es bei den USA ein übrigens schon in der Amtszeit von US-Präsident Joe Biden massiv ausgeweiteter Protektionismus.

Dazu kommen ganz praktische Überlegungen, warum auch Wirtschaftsminister Robert Habeck und Aussenministerin Annalena Baerbock noch China-Visiten in diesem Jahr planen: Der Kampf gegen den Klimawandel lässt sich ohne den weltgrössten CO2-Emittenten nicht erfolgreich führen. Deshalb war in Peking Umweltministerin Steffi Lemke mit dabei. Von der Künstlichen Intelligenz bis zum Autonomen Fahren lassen sich internationale Standards nicht mehr ohne China denken, das Milliarden in beiden Bereichen investiert – weshalb auch Verkehrsminister Volker Wissing am Dienstag anreiste. Und Chinas massiv ausgeweiteter Handel mit Russland seit dessen Einmarsch in die Ukraine zeigt, dass man die Volksrepublik braucht, um die Führung in Moskau zum Einlenken zu bewegen.

Die Kritik an einer vermeintlichen Sonderrolle der deutschen China-Politik wollte Scholz diesmal schon dadurch vermeiden, dass bei seinem Besuch keine milliardenschweren Aufträge vergeben wurden. Bei der Neuentdeckung Chinas ist er ohnehin nicht alleine: Im vergangenen Jahre hatte schon Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Xi einen Besuch abgestattet. In den kommenden Wochen will er erneut kommen. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte war gerade erst da. Und fast noch wichtiger: Xi empfing vor wenigen Tagen eine Gruppe Konzernchefs aus den USA. «Das ist auch gut für uns», meinte ein in der Scholz-Delegation mitreisender Chef eines Dax-Konzerns. Denn je angespannter das Verhältnis zwischen den USA und China sei, desto schwieriger werde auch das Geschäft für die Europäer.

(Reuters)