Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte am Samstag mit, Russland werde sich nicht mehr an das internationale Abkommen halten, das ukrainische Getreideausfuhren über das Schwarze Meer trotz des russischen Angriffkriegs ermöglicht hatte. Dies gelte für unbestimmte Zeit, hieß es in einem von Reuters eingesehenen Brief Russlands an UN-Generalsekretär Antonio Guterres. Die Ukraine und die USA kritisierten den Schritt scharf. Russland will nach Angaben seines Agrarministers ukrainisches Getreide auf dem Weltmarkt ersetzen.

Die Ukraine und Russland zählen weltweit zu den größten Getreideexporteuren. Viele Entwicklungsländer sind abhängig vom Import des Grundnahrungsmittels zu niedrigen Preisen. Das von den UN und der Türkei im Juli vermittelte Abkommen sollte den weltweiten Anstieg der Getreidepreise dämpfen. Russland und die Ukraine hatten Getreidefrachtschiffen, die ukrainische Häfen verlassen, sicheres Geleit zugesagt.

Zur Begründung für die Aussetzung des Abkommens gab das russische Verteidigungsministerium an, die Ukraine habe nahe Sewastopol Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte am Samstag mit Drohnen angegriffen. Dabei sei die Ukraine von britischen Spezialisten unterstützt worden. Es sei nur geringer Schaden entstanden. Die Sicherheit des für die Getreidetransporte eingerichteten Korridors sei jedoch nicht mehr gewährleistet. Russland wolle das Thema am Montag vor den UN-Sicherheitsrat bringen, erklärte der Vizebotschafter bei den UN, Dmitri Poljanski.

Sewastopol liegt auf der 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim und ist Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte. Nach der Auflösung der Sowjetunion war die Krim bei der Ukraine verblieben, die militärische Nutzung von Anlagen in Sewastopol durch Russland jedoch von beiden Staaten vertraglich vereinbart worden. Russland greift seit seiner im Februar begonnenen Invasion regelmäßig zivile und militärische Ziele in der Ukraine an. Zuletzt hatte die Ukraine größere von Russland besetzte Gebiete zurückerobert.

Grossbritannien: "Falsche Behauptungen in epischem Ausmass"

Die Ukraine und Großbritannien wiesen die russische Darstellung des Vorfalls bei Sewastopol scharf zurück. Andrij Jermak, der Stabschef des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, erklärte, Russland habe die Angriffe fingiert. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba erklärte, Russland habe damit einen Vorwand für einen Ausstieg aus dem Getreideabkommen geschaffen.

Das britische Verteidigungsministerium warf Russland "falsche Behauptungen in epischem Ausmaß" vor, mit denen von eigenen militärischen Fehlschlägen abgelenkt werden solle. Das Ministerium in London bezog sich damit auch auf eine am Samstag vom Verteidigungsministerium in Moskau verbreitete, unbelegte Darstellung, für die Beschädigung der Nord-Stream-Gaspipelines sei ebenfalls Großbritannien verantwortlich. An den von Russland nach Deutschland führenden Pipelines war es am 26. September in der Ostsee zu Explosionen gekommen. Schwedische und dänische Behörden, die den Vorfall untersuchen, haben bisher keinen Verantwortlichen benannt.

US-Präsident Joe Biden verurteilte den von Russland erklärten Rückzug aus dem Getreideabkommen. Der Schritt sei empörend, sagte Biden am Samstag. Der ukrainische Präsident Selenskyj forderte eine scharfe Reaktion der Vereinten Nationen (UN) und der G20-Staaten. Russland verursache mit seinem Schritt Hungersnöte in Afrika, dem Nahen Osten und Südasien. Die rotierende Präsidentschaft der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer (G20) hat gegenwärtig Indonesien inne. Neben mehreren westlichen Ländern gehören unter anderem auch Russland und China der Gruppe an.

Seitdem Russland und die Ukraine am 22. Juli das Abkommen unterzeichnet hatten, wurden mehrere Millionen Tonnen Mais, Weizen, Sonnenblumenprodukte, Gerste, Raps und Soja aus der Ukraine exportiert. Vertreter der UN hatten sich noch Mittwoch zuversichtlich gezeigt, dass die ursprünglich auf 120 Tage begrenze Vereinbarung über Mitte November hinaus verlängert werden könne.

Wichtige humanitäre Massnahme

Der russische Agrarminister Dmitri Patruschew erklärte am Samstag, sein Land sei bereit, arme Länder in den kommenden vier Monaten mit insgesamt 500.000 Tonnen Getreide zu versorgen. "In Anbetracht der diesjährigen Ernte ist die Russische Föderation vollumfänglich bereit, ukrainisches Getreide zu ersetzen und mit erschwinglichen Preisen alle daran interessierten Länder zu beliefern", sagte Patruschew.

UN-Sprecher Stephane Dujarric erklärte am Samstag, die Vereinten Nationen stünden in Kontakt mit Russland. Es sei von entscheidender Bedeutung, dass niemand das Getreide-Abkommen gefährde. Es gehe um eine wichtige humanitäre Maßnahme, durch die Millionen von Menschen Zugang zu Nahrungsmitteln bekämen. Die EU-Kommission rief alle Beteiligten dazu auf, auf einseitige Schritte zu verzichten, die das Abkommen gefährdeten.

(Reuters)