Militante Palästinenser haben einen überraschenden Grossangriff auf Israel gestartet und damit die schwerste Eskalation im Nahost-Konflikt seit Jahren ausgelöst. Die Extremisten feuerten am Samstagmorgen vom Gazastreifen aus einen Raketenhagel auf Israel ab. Zugleich drangen palästinensische Kämpfer in mehrere israelische Städte ein, dort kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit israelischen Sicherheitskräften. «Wir sind im Krieg und wir werden gewinnen», erklärte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und kündigte Vergeltung an.

Den Behörden zufolge wurden mindestens 22 Israelis getötet und mehr als 540 verletzt. Es soll auch zu Geiselnahmen gekommen sein. Das israelische Militär reagierte mit Luftangriffen auf den Gazastreifen. Die in dem Küstengebiet herrschende und vom Iran unterstützte Islamisten-Gruppe Hamas sprach vom Beginn eines militärischen Grosseinsatzes, um die israelische Besatzung zu beenden, und rief alle Palästinenser zum Kampf auf. Die Extremisten-Gruppe Islamischer Dschihad schloss sich ihr an.

Bei dem Grossangriff handelt es sich um die schwersten Kämpfe seit dem zehntägigen Krieg zwischen der Hamas und Israel im Jahr 2021. Israel wurde von der Attacke völlig überrascht. Es kam zu einem beispiellosen Eindringen einer unbekannten Zahl von Hamas-Kämpfern aus dem Gazastreifen in israelisches Gebiet. «Unser Feind wird einen Preis zahlen, wie er ihn noch nie erlebt hat», sagte Netanjahu.

Israelische Medien berichteten von Schusswechseln zwischen palästinensischen Kämpfern und Sicherheitskräften in Städten im Süden Israels. Die Polizei sprach von «21 aktiven Schauplätzen». Dem israelischen Militär zufolge feuerten die Palästinenser 2500 Raketen auf Israel ab. Kämpfe gebe es in der Stadt Eres an der Grenze zum Gazastreifen und bei der in der Nähe gelegenen Militärbasis Sikim. Die Streitkräfte seien im Gazastreifen im Einsatz. Verteidigungsminister Joaw Gallant ordnete die Einberufung Tausender Reservisten an.

Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und andere westliche Staaten verurteilten den Angriff auf Israel scharf. «Gewalt und Raketen gegen Unschuldige müssen sofort aufhören. Israel hat unsere volle Solidarität und das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich gegen Terror zu verteidigen», schrieb Bundesaussenministerin Annalena Baerbock auf der Plattform X. Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte: «Wir stehen an Israels Seite.» Auch die Ukraine erklärte ihre Solidarität mit Israel.

Der israelische Sender Reshet 13 TV News meldete, dass militante Kämpfer in der Stadt Ofakim Israelis als Geiseln festhielten und dass in der Stadt Sderot fünf palästinensische Kämpfer getötet und Häuser in Brand gesetzt worden seien. Der Islamische Dschihad erklärte, mehrere israelische Soldaten als Geiseln genommen zu haben. In Hamas-Medien wurden Videos gezeigt, wie israelische Soldaten von Kämpfern in den Gazastreifen gebracht wurden. In einem Telefonat mit dem israelischen Nachrichtensender N12 News aus Nir Oz, einem Kibbuz in der Nähe des Gazastreifens, sagte eine Frau namens Dorin, dass Kämpfer in ihr Haus eingedrungen seien und versucht hätten, den Luftschutzkeller zu öffnen, in dem sie sich versteckt habe. «Sie sind gerade wieder reingekommen, bitte schicken Sie Hilfe», sagte sie. «Es sind viele Häuser beschädigt ... Mein Mann hält die Tür geschlossen ... Sie feuern Kugeln ab.»

Der militärische Befehlshaber der Hamas, Mohammad Deif, kündigte in den Medien der Extremistengruppe den Beginn eines militärischen Grosseinsatzes an. «Heute ist der Tag der grössten Schlacht, um die letzte Besatzung auf der Erde zu beenden», sagte er. Er sprach davon, dass 5000 Raketen auf Israel abgefeuert worden seien. Das israelische Militär reagierte mit Luftangriffen auf den Gazastreifen. Von dort wurde von schweren Explosionen berichtet, bei denen mindestens zwei Menschen getötet worden sein sollen. In Erwartung längerer Kämpfe begannen die Einwohner im Gazastreifen, ihre Vorräte aufzustocken. Einige suchten Schutzräume auf.

Der Hamas-Angriff erfolgte vor dem Hintergrund der seit Monaten zunehmenden Gewalt zwischen Israel und militanten Palästinensern. Zugleich haben die USA zuletzt die Vermittlung eines Abkommens forciert, das die Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien normalisieren soll. Die ebenfalls vom Iran unterstützte libanesische Hisbollah-Miliz bezeichnete den Hamas-Angriff als eine «entschlossene Antwort auf Israels anhaltende Besatzung und eine Botschaft an diejenigen, die eine Normalisierung mit Israel anstreben». Mehrere arabische Staaten hatten zuletzt eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel eingeleitet.

Der Iran begrüsste den Angriff der Hamas auf Israel. «Wir beglückwünschen die palästinensischen Kämpfer», sagt Rahim Safawi, ein Berater von Irans geistlichem und staatlichem Oberhaupt Ajatollah Ali Chamenei der halbstaatlichen Nachrichtenagentur Insa. Saudi-Arabien forderte hingegen Israel und Palästinenser zu einem sofortigen Stopp der Gewalt auf.

Der Hamas-Angriff erfolgte einen Tag, nachdem Israel den 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Kriegs von 1973 begangen hatte, der das Land durch einen Überraschungsangriff von Syrien und Ägypten an den Rand einer katastrophalen Niederlage brachte.

(Reuters)