Da den Unternehmen droht, das Gas auszugehen, ziehen sie schmerzhafte Einschnitte in der Produktion in Betracht und die Rückkehr zu umweltschädlichen Energiequellen - ein Schritt, der bis vor kurzem noch undenkbar war und ihre Klimaziele gefährdet. Am Donnerstag hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die zweite Alarmstufe des Notfallplans Gas ausgerufen, die erhebliche Konsequenzen mit sich bringen könnte, wenn Versorger ihre höheren Einkaufspreise direkt an die Kunden weiterreichen. Sie ist aber auch eine Voraussetzung für die Umsetzung der Pläne der Bundesregierung, vermehrt Kohlekraftwerke wieder ans Netz zu holen, um Erdgas bei der Stromproduktion einzusparen.

"Gas ist von nun an ein knappes Gut in Deutschland", sagte Habeck. Doch der weltgrösste Chemiekonzern BASF, der als grösster industrieller Gasverbraucher in Deutschland gilt, sieht keine kurzfristige Lösung, Erdgas zu ersetzen. Das Unternehmen hat einen "Sonderalarmplan Erdgas" für seinen weltweit grössten Standort in Ludwigshafen ausgearbeitet, in dem detailliert aufgelistet ist, wie BASF auf Gaskürzungen oder Druckschwankungen reagieren wird. Einzelheiten nennt der Konzern nicht und lässt nur wissen, dass Ludwigshafen mit reduzierter Last weiterbetrieben werden könnte, wenn die Versorgung nicht unter etwa 50 Prozent des maximalen Gasbedarfs sänke.

Welche Anlagen zuerst abgeschaltet würden, sei in erster Linie eine Frage der Gespräche mit Kunden, aber auch mit der Politik, erläutert der Konzern. Denn es gebe Produkte, die für die Lebensmittelproduktion, die pharmazeutische Industrie und Automobilhersteller unerlässlich seien. "Wenn es hart auf hart kommt, müssen wir mit der Bundesnetzagentur besprechen, welche Anlagen wir abschalten sollen", erklärte eine Sprecherin. Wenn die Gasversorgung dauerhaft auf unter die Hälfte des Bedarfs sänke, müsste BASF die Produktion in Ludwigshafen einstellen. Mittelfristig will der Konzern seine Gasabhängigkeit deutlich reduzieren und setzt dabei auf einen schnellen Umstieg auf erneuerbare Energien.

Es geht ums Überleben

Andere Unternehmen greifen in ihrer Not auf fossile Energien zurück. Seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine treibt Kelheim Fibres, einem weltweit führenden Hersteller von Viskosefasern, die Sorge um, wie sein Werk mit Strom versorgt werden kann, wenn Moskau den Gashahn zudreht. Als Gazprom in der vergangenen Woche die Lieferungen durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 nach Deutschland um 60 Prozent kappte, traf Kelheim eine bis dahin undenkbare Entscheidung: Das Unternehmen prüft, Millionen von Euro in die Umrüstung seines Gaskraftwerks auf den Betrieb mit Öl zu investieren.

Bei der mindestens zwei Millionen Euro teuren Umstellung hofft Kelheim auf finanzielle Unterstützung durch den Staat und Kredite durch die Förderbank KfW, denn dass 86 Jahre alte Unternehmen kämpft um sein Überleben, wie Geschäftsführer Wolfgang Ott sagt. Die wirtschaftliche Situation habe sich weiter verschlechtert und die vorhandenen Reserven würden zusehends aufgebraucht. "Erdöl hat nur einen Vorteil: Versorgungssicherheit. Preislich ist das dasselbe." Die Umrüstung der Anlage würde sechs bis acht Monate dauern.

Europas grösste Kupferhütte Aurubis sieht sich bei der Suche nach Alternativen zum Einsatz von Gas in der Produktion mit erheblichen Hindernissen konfrontiert. Je nach Standort werden verschiedene Szenarien durchgespielt, um Gas einzusparen, bis hin zu einem kompletten Verzicht darauf. Teilweise könne die Produktion auf Strom oder Öl umgestellt werden. In einem Pilotprojekt hat Aurubis bereits erste Kupferanoden mit Wasserstoff hergestellt und prüft einen industriellen Einsatz. Bei der Herstellung von Kupferprodukten wie Strangguss und Draht wird jedoch viel Gas benötigt, das kurzfristig kaum ersetzt werden kann, wie Aurubis, einer der grössten Energieverbraucher in Norddeutschland, betont.

Klimaziele «Ade»

Bis zum Beginn des Kriegs in der Ukraine konzentrierten sich die Industrieunternehmen auf die Senkung ihrer CO2-Emissionen und ihre Klimaziele. Jetzt geht es in erster Linie ums Überleben, auch wenn dies eine Verlangsamung der Bemühungen zur Bekämpfung der weltweiten Erderwärmung bedeutet. Öl und Kohle werden als Alternativen geprüft, um den Betrieb von Anlagen aufrechterhalten zu können und schmerzhafte Verluste abzuwenden. Die Verbrennung von Öl zur Stromerzeugung ist ebenso wie die von Kohle sehr umweltschädlich und wurde in Europa vor einem Jahrzehnt weitgehend eingestellt. "Das kann keinem Menschen, der mit wachen Augen durch die Zeit läuft, in irgendeiner Form gefallen", hatte Habeck zu den Plänen der Regierung gesagt, wieder mehr Kohlekraftwerke zu nutzen. In dieser Lage sei dies aber schier notwendig, um den Gasverbrauch zu senken.

Der Kölner Spezialchemiekonzern Lanxess prüft eine Verschiebung des geplanten Ausstiegs aus den Kohlekraftwerken - die das Unternehmen mit Partnern an seinen Standorten Leverkusen und Krefeld im Einsatz hat und aus denen Lanxess zum Erreichen seiner Klimaziele frühzeitig aussteigen wollte. Das würde "wehtun, weil wir ganz klar jedes Jahr CO2 reduzieren wollen", hatte Vorstandschef Matthias Zachert im Mai gesagt. "Aber wenn wir uns damit von der preislichen Seite produktmässig aus dem Markt schiessen, dann können wir die Werke schliessen und dann sind Hunderte von Arbeitsplätzen in Gefahr."

Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) betonte, die Branche stehe klar zu ihren Klimaschutzzielen. "Aber die weitere unsägliche Summe nationaler und vor allem europäischer Regulationen kann die Industrie angesichts dieser wichtigsten Herausforderung unserer Zeit unmöglich stemmen. Zeitenwende erfordert eine Politikwende und damit eine Neu-Priorisierung auf das jetzt wirklich Notwendige."

(Reuters)