Brachten die explodierenden Energiepreise viele kleine und mittlere Unternehmen bereits an ihre Grenzen, lässt sie die Sorge vor einem möglichen Lieferstopp von russischem Gas nun um ihre Existenz bangen. "Wenn wir kein Gas haben, müssen wir hier abstellen", sagt Craig Barker, der Geschäftsführer von Kelheim Fibres, einem weltweit führenden Hersteller von Viskosefasern, im Gespräch mit Reuters. Die Gasrechnung des Unternehmens wird in diesem Jahr um mehr als das Fünffache auf 100 Millionen Euro steigen - das entspricht mehr als der Hälfte des Jahresumsatzes.

Kelheim Fibres ist für seine energieintensive Produktion vollständig auf Gas angewiesen. Kurzfristig gibt es keine Alternativen. "Wasserstoff wäre langfristig die richtige Lösung", glaubt Barker. Aber bis die entsprechenden Mengen zur Verfügung stünden, werde es 15 bis 20 Jahre dauern. "Wir müssen eine andere Lösung finden." Die Bundesregierung stellt sich auf eine Verschlechterung der Gasversorgung wegen eines möglichen Lieferstopps aus Russland ein. Wirtschaftsminister Robert Habeck rief am Mittwoch die Frühwarnstufe des sogenannten Notfallplans Gas aus - diese bringt für Wirtschaft und Verbraucher im Moment noch keine Einschränkungen. Erst in der dritten und letzten Notfallstufe müsste vor allem die Industrie mit staatlichen Einschränkungen rechnen.

Hintergrund ist die Ankündigung Russlands, Gas und Öl nur noch gegen Zahlung in Rubel zu liefern. Aus Moskau gab es Signale, die darauf hindeuten könnten, dass ein Lieferstopp nicht unmittelbar bevorsteht. Doch in Berlin ist man skeptisch. Im vergangenen Jahr entfielen 55 Prozent der deutschen Gaseinfuhren auf Russland. Die chemische Industrie befürchtet laut ihrem Spitzenverband VCI einen "industriellen Flächenbrand", wenn das Gas ausginge und Produktionsanlagen stillstünden.

Derzeitige Situation entwickelt einen existenzbedrohenden Grad

"Die derzeitige Situation entwickelt einen existenzbedrohenden Grad. Wenn die Politik nicht eingreift, werden wir hier mittelfristig nicht überleben", sagt Wolfgang Ott, Mitglied des Management-Teams bei Kelheim Fibres, das 600 Mitarbeiter in seiner Fabrik im niederbayerischen Kelheim beschäftigt. "Unser Problem liegt im Moment nicht in der mangelnden Verfügbarkeit von Erdgas, sondern in dem ungezügelten Handel mit Erdgas." Kelheim Fibres, dessen Fasern etwa in Verbandsstoffen und Tampons eingesetzt werden, hat bereits bei den Behörden beantragt, als systemrelevantes Unternehmen behandelt zu werden, um im Falle einer Gasrationierung Zugang zur Versorgung zu erhalten.

Um von russischem Gas unabhängig zu werden, benötigt Deutschland nach Äußerungen Habecks noch bis Mitte 2024. Das macht die Unternehmen und die Wirtschaft insgesamt angreifbar. "Bei ausbleibenden Energielieferungen drohen Produktionsstopps mit unübersehbaren Folgen für Lieferketten, Beschäftigung und auch die politische Handlungsfähigkeit unseres Landes", erklärte BDI-Präsident Siegfried Russwurm.

Der deutsche Soda- und Natronhersteller Ciech Soda Deutschland aus Staßfurt in Sachsen-Anhalt ist ein weiterer Leidtragender aus dem Mittelstand. Angesichts der hohen Gaspreise hat das Unternehmen Mehrkosten von 22 Millionen Euro pro Monat zu schultern und könnte dadurch gezwungen sein, die Produktion einzustellen. "Dies hätte wiederum dramatische Auswirkungen auf die hiesige Industrie", warnt Sachsen-Anhalts Wirtschaftsminister Sven Schulze in einem Brief an Bundeswirtschaftsminister Habeck, der Reuters vorliegt, und bittet um ein Krisengespräch in der Angelegenheit. "Ganze Branchen und nachgelagerte Industriezweige drohen aufgrund der bestehenden Lieferketten ins Stocken und somit in weitere Schieflage zu geraten." Ciech Soda Deutschland und das Wirtschaftsministerium lehnten eine Stellungnahme dazu ab. 

(Reuters)