"Aus heutiger Sicht zeigen sich die Dinge völlig anders", sagte Draghi am Freitag vor Journalisten. "Die Pandemie hat dazu geführt, dass es legitim ist, hohe Schulden zu machen. Sie hat die (Europäische Zentralbank) EZB zu ihrer Strategie veranlasst und das Handeln derjenigen bestimmt, die die Regeln in Brüssel machen."

Italien geht davon aus, dass die Neuverschuldung in diesem Jahr auf eine Quote von 160 Prozent der Wirtschaftsleistung wachsen wird. Das wäre der höchste Stand seit dem Zweiten Weltkrieg. Vor der Krise lag der Wert bei 135 Prozent. Nach Einschätzung der Ratingagentur Fitch wird das Land mindestens zehn Jahre brauchen, um die Defizitquote wieder auf dieses Niveau zurückzufahren.

Nach Worten Draghis wäre der Anstieg zwar "aus der Sicht von gestern sehr beunruhigend". Aber inzwischen lägen die Dinge anders. Nun gehe es darum, zwischen "guten Schulden und schlechten Schulden" zu unterscheiden und das Schuldenmachen für Investitionen zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums zu nutzen. "Wachstum ist das wesentliche Kriterium", sagte der Regierungschef.

"Die Frage ist nun, ob die Länder stark genug wachsen können, um die Schulden, die sie heute machen, am Ende zurückzuzahlen." In Italien hinkt die wirtschaftliche Entwicklung chronisch hinter der in den anderen Euro-Ländern hinterher. Im vergangenen Jahr war die drittgrößte Volkswirtschaft des Währungsraums um 8,9 Prozent eingebrochen und damit so stark wie noch nie in der Nachkriegszeit. Das Land ist von der Corona-Krise besonders heftig betroffen.

Die von der EU vorgesehene Defizit-Obergrenze liegt eigentlich bei 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Doch die Vorgaben des EU-Stabilitätspakts sind ausgesetzt wegen der Corona-Krise. Draghi sagte, kein Mitgliedstaat plädiere für eine Rückkehr zu den alten Bestimmungen. Vielmehr gebe es in der EU breite Übereinstimmung, dass neue Vorgaben den Ländern ermöglichen sollten, ihre Schuldenlast schrittweise zu reduzieren - ohne den Konjunkturaussichten zu schaden.

Draghi war früher Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) gewesen. In dieser Funktion trat er noch 2012 dafür ein, Länder mit hoher Schuldenlast wie Italien mit schärferen Regeln zu einer raschen Senkung ihrer Verbindlichkeiten zu veranlassen. Unter Draghis Nachfolgerin Christine Lagarde an der Notenbankspitze versucht die EZB mit einer massiven zusätzlichen Geldschwemme, die Finanzierungskosten von Regierungen, Firmen und Haushalten in der Krise im Zaum zu halten.

(Reuters)