Aussenminister Antony Blinken sagte am Freitag, eine Invasion Russlands könne jederzeit erfolgen, auch noch während der Olympischen Winterspiele in Peking. Russland rüste im Grenzgebiet weiter auf. US-Präsident Joe Biden und mehrere europäische Länder forderten ihre Bürger auf, die Ukraine zu verlassen. Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan sprach von möglichen Angriffsszenarien, was Russland umgehend als Falschinformation zurückwies. Die Gespräche im sogenannten Normandie-Format zur Lösung der Krise endeten in Berlin ohne greifbare Fortschritte. Die Runde, in der Deutschland und Frankreich zwischen Russland und der Ukraine vermitteln, soll im März erneut zusammenkommen. Biden, der sich am Freitag mit den Staats- und Regierungschefs mehrerer Verbündeter wie Deutschland in einem Krisentelefonat austauschte, hat für Samstag ein weiteres Telefonat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vereinbart. Das bestätigten Vertreter beider Seiten.

Biden warnte in einem Interview mit dem Sender NBC, die Situation könne schnell ausser Kontrolle geraten. Daher sei es ratsam, die Ukraine zu verlassen. Er plane nicht, Truppen zur Rettung von US-Bürgern in der ehemaligen Sowjet-Republik zu schicken, falls Russland einmarschiere. "Das ist ein Weltkrieg, wenn Amerikaner und Russen damit beginnen, aufeinander zu schiessen." Bidens Berater Sullivan sagte, Russland habe genug Streitkräfte mobilisiert, um einen grösseren Militärschlag auszuführen. Mögliche Szenarien seien aus US-Sicht ein Luftangriff zu Beginn ein rascher Vorstoss des russischen Militärs gegen die ukrainische Hauptstadt Kiew oder eine Operation unter falscher Flagge. Das russische Aussenministerium erklärte daraufhin, westliche Staaten verbreiteten Falschinformationen und versuchten damit, von eigenen aggressiven Handlungen abzulenken.

Blinken kündigte an, die Besetzung der US-Botschaft in Kiew weiter zu reduzieren. Die Bundesregierung sah keinen Anlass, Deutsche in der Ukraine zur Ausreise aufzurufen. Man prüfe die Lage und sei jederzeit bereit zum schnellen Handeln, sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes. Aussenministerin Annalena Baerbock verwies auf Äusserungen von Russlands Vize-Aussenminister Andrej Rudenko, wonach die Regierung in Moskau erwäge, das Botschaftspersonal aus der Ukraine abzuziehen. Baerbock sagte am Rande ihres Besuchs in Jordanien, die Bundesregierung bereite sich auf alle Eventualitäten vor. "Aber wir arbeiten zugleich mit allen Mitteln am Dialog."

US-Präsident Joe Biden und die Staats- und Regierungschefs mehrerer Partnerländer waren sich bei ihrem Krisentelefonat nach US-Angaben einig über Sanktionen gegen Russland im Falle eines Angriffs auf die Ukraine. Die Verbündeten seien bereit, Russland mit massiven Konsequenzen und hohen wirtschaftlichen Kosten zu belegen, teilt das US-Präsidialamt mit. Teilnehmer des Gesprächs waren neben Biden unter anderem auch Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der britische Premierminister Boris Johnson, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel. Insidern zufolge stehen die USA und europäische Staaten vor einer Verständigung auf ein umfassendes Sanktionspaket für den Fall einer Invasion. Ein Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem Swift gehöre aber nicht dazu.

Scholz reist am Montag nach Kiew und am Dienstag nach Moskau, wo er mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zusammentrifft. Bei seiner Antrittsrede im Bundesrat warnte Scholz am Freitag erneut, jegliche militärische Aggression werde Konsequenzen haben. Es sei dringend erforderlich, die Gespräche auf allen Kanälen fortzusetzen, um den Frieden in Europa zu erhalten. Dies gelte für den Dialog zwischen den USA und Russland, dem Nato-Russland-Rat, den Gesprächen in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie für das Normandie-Format.

«Alle sind entschlossen»

In dem Quartett, das 2014 und 2015 das Abkommen von Minsk zur Befriedung der Ost-Ukraine ausgehandelt hat, sitzen sich Vertreter der Regierungen in Moskau und Kiew direkt gegenüber. Am Donnerstag hatten die aussenpolitischen Chefberater der vier Staats- und Regierungschefs in Berlin über neun Stunden getagt. In deutsch-französischen Kreisen wurde betont, es sei gut, dass die Gespräche im März fortgesetzt werden sollen und sich sowohl Russland als auch die Ukraine zum Minsker Abkommen bekannt hätten. Ein Problem ist laut EU-Diplomaten, dass Russland nicht als Konfliktpartei in der Ost-Ukraine eingestuft werden will, obwohl es die Separatisten dort auch militärisch unterstützt. Seit 2014 kontrollieren die Rebellen die Gebiete um Donezk und Luhansk.

Russland hat an der Grenze zur Ost-Ukraine mehr als 100'000 Soldaten zusammengezogen. In Belarus hält das russische Militär ein grossangelegtes Manöver ab. Zudem hat Russland im Scharzen Meer Kriegsschiffe zu Manövern zusammengezogen. Den Verdacht des Westens, Russland wolle in die Ukraine einmarschieren, weist die Regierung in Moskau zurück. Sie verlangt vom Westen Sicherheitsgarantien wie eine Zusage, die Ukraine dauerhaft nicht in die Nato aufzunehmen.

(Reuters)