Die Machtübernahme der Taliban schürt in Europa die Furcht vor einer neuen Flüchtlingskrise. 2015 dürfe sich nicht wiederholen, heisst es von Politikern aller Parteien - zu sehr in Erinnerung sind noch die Bilder von chaotischen Zuständen an den europäischen Grenzen, als mehr als eine Million Menschen vor allem aus dem Nahen Osten Zuflucht in der EU suchte.

Auch jetzt versuchen Tausende Menschen einen Platz in einem der Evakuierungsflugzeuge in Kabul zu bekommen. Gross ist die Furcht, die Taliban könnten wie vor 20 Jahren ihre fundamentalistischen Vorstellungen eines islamischen Staates durchsetzen.

Wird es zu einer Massen-Auswanderung kommen?

Schätzungsweise 38 Millionen Menschen leben in Afghanistan - unklar ist, wie viele von ihnen das Land verlassen werden. Das deutsche Innenministerium rechnet nach den Worten von Aussenminister Heiko Maas mit 500'000 bis fünf Millionen Flüchtlingen.

Wie viele es sein werden, könne im Moment niemand seriös prognostizieren, sagte er im "Spiegel". "Aber es wird mehr Flüchtlinge geben, so viel ist sicher." Es ist nicht nur die Furcht vor den Taliban, welche die Menschen zum Verlassen ihrer Heimat bewegen dürfte: Dazu kommen Millionen Afghanen, die wegen einer Dürre und der Corona-Pandemie auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.

Die Welternährungsorganisation WFP warnte davor, dass das Schlimmste noch bevorsteht: "Die Situation zeigt alle Anzeichen einer humanitären Katastrophe", sagte ein Sprecher. Schon seit Januar haben nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR mehr als 550'000 Menschen ihre Heimatorte verlassen und sich in andere Landesteile in Sicherheit gebracht.

Wohin gehen die Menschen?

Die meisten Flüchtlinge - so sie es denn aus dem Land hinausschaffen - bleiben in der Region. Schon jetzt leben etwa 1,4 Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan, fast eine Million halten sich im Iran auf, wie aus UNHCR-Daten von Anfang 2021 hervorgeht - plus Millionen, die nicht registriert sind.

Das UNHCR forderte die Nachbarländer am Freitag erneut auf, ihre Grenzen für Flüchtlinge offen zu halten. Doch damit stösst die UN-Organisation auf Widerstand.

So hat der Iran, der selbst schwer unter den US-Sanktionen leidet, bereits viele der Afghanen zur Rückreise aufgefordert, die Grenze zu Pakistan ist weitgehend geschlossen. Die Türkei errichtet einen Zaun an der Grenze zum Iran. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat deutlich gemacht, dass sein Land nicht gewillt sei, "Europas Zwischenlager für Migranten" zu werden.

Sind die europäischen Grenzen genauso offen wie 2015?

Seit 2015 wurden die europäischen Grenzen ausgebaut, die Grenzschutzbehörde Frontex wurde verstärkt. Griechenland, eine der ersten Anlaufstellen für syrische Flüchtlinge vor sechs Jahren, hat seine Grenztruppen in Alarmbereitschaft versetzt. Auf dem Weg über die Balkan-Route stehen inzwischen Zäune und Mauern, die den Menschen den Weg versperren.

Dazu kommt, dass schon jetzt viele europäische Länder deutlich gemacht haben, keine oder nur wenige Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen: Österreichs Innenminister Karl Nehammer sagte zuletzt, es gebe keinen Grund, warum ein Afghane jetzt nach Österreich kommen sollte.

Mit den Evakuierungsflügen der Bundeswehr und anderer Länder sollen zwar auch Afghanen in Sicherheit gebracht werden, allerdings handelt es sich dabei in erster Linie um Ortskräfte, die für die westlichen Truppen oder Hilfsorganisationen gearbeitet haben und deswegen in Gefahr sind.

Was will Europa stattdessen tun?

Ein Auslöser der Flüchtlingskrise 2015 war auch, dass den Helfern vor Ort das Geld ausging und die Menschen in den Lagern nicht mehr ausreichend versorgt werden konnten.

CSU-Chef Markus Söder bezeichnete das als einen der grossen Fehler des Jahres 2015 und forderte nun eine "sehr starke finanzielle Unterstützung für die Nachbarstaaten".

Die Bundesregierung stellte bereits eine Soforthilfe von 100 Millionen Euro für Geflüchtete aus Afghanistan zur Verfügung. Grossbritannien hat ebenfalls angekündigt, seine Hilfszahlungen auf umgerechnet rund 333 Millionen Euro zu verdoppeln. 

(Reuters)